Reportage im Marienhospital Endstation Altstadt: Eine Nacht in der Notaufnahme
Das Marienhospital hat aufgrund seiner Nähe zur Altstadt oft viel zu tun. Die WZ hat zwei Nachtschwestern für eine Schicht begleitet.
Düsseldorf. Um Viertel nach acht am Abend rauscht Steffi durch den Empfang der Notaufnahme. Sie hat heute Nachtschicht. Sie geht vorbei an einem kleingewachsenen Mann von höchstens 45 Jahren, nennen wir ihn Martin. Er schläft auf einem der Krankenhausstühle im Eingangsbereich, den schmalen, tätowierten Oberkörper unbekleidet, einen Schuh hält er fest im Arm. Er ist einer von denen, die Steffi als Stammgäste bezeichnet. Ein Obdachloser, der gerade seinen Rausch ausschläft.
Zum Einzugsgebiet des Marien Hospitals gehören auch die Altstadt und der Hauptbahnhof. Neben Menschen wie Martin — alten Bekannten, sozusagen — sind es vor allen Dingen diejenigen, die das Nachtleben nicht unbeschadet überstehen, die hierher kommen. Endstation Altstadt, sagt Steffi dazu. Am Wochenende, bei besonderen Veranstaltungen, wie Japan-Tag und Kirmes-Eröffnung, sind das Vorzimmer und die Behandlungsräume der Notaufnahme brechend voll.
„Wisst ihr noch, als Deutschland gegen Italien gespielt hat?“, sagt Steffi. Sie hat schon ihre blaue Arbeitskleidung angezogen und setzt sich zu ihren Kollegen von der Spätschicht ins Schwesternzimmer. Jan, der in besagter Nacht mit ihr zusammen Dienst hatte, atmet laut aus und lacht. 30 Patienten hatten die beiden da allein nach Mitternacht in der Notaufnahme, alle waren stark alkoholisiert. „Am schlimmsten ist es, wenn es dann Ärger unter den Patienten im Wartezimmer gibt“, findet Inga. Sie hat heute zusammen mit Steffi bis sieben Uhr am Morgen Nachtschicht. Am Wochenende ist mittlerweile immer ein Sicherheitsmann da, um Patienten und Personal zu beschützen.
Heute ist Dienstag, solche Zustände sind nicht zu erwarten. Das Team sitzt noch etwas beieinander. Pfleger Alex will dann aber doch nach Hause. Ein Betrunkener mit 3,0 Promille hat heute Nachmittag, als er aufwachte, versucht, Alex an die Gurgel zu gehen. „Das ist auch keine Seltenheit.“ Steffi begleitet ihn nach draußen in den Feierabend, im Vorbeigehen deckt sie Martin noch schnell mit einem Laken zu. „Danke, Schatz“, murmelt der in seinen Schuh. Steffi arbeitet seit 2001 im Marien Hospital, die Hälfte der Zeit bereits in der Notaufnahme. Die Spätschicht verabschiedet sich.
Am Empfang geht der Alarm los. Und der kann alles bedeuten. Inga schnappt sich das Fax eingehende Fax. „RTW mit Notarzt, aber nur grün“, ruft sie Steffi zu. Grün ist die niedrigste Alarmstufe. Sie bedeutet, dass der Patient, der gleich vom Rettungswagen (RTW) gebracht wird, zumindest stabil ist. Das Fax kündigt eine Frau an, die auf dem Flug von Belgrad nach Düsseldorf Krampfanfälle bekommen hat. „Sie kommt dann in die Sechs“, sagt Steffi.
In Raum acht liegt eine 24-jährige Frau in grauem Hosenanzug, neben der Liege stehen Handtasche und ein Koffer. Sie ist Praktikantin in einer Unternehmensberatung und heute Morgen in Düsseldorf angekommen. Beide Füße sind stark angeschwollen, vor zwei Tagen haben Mücken sie gestochen. „Es wird eigentlich immer schlimmer“, erklärt sie der Ärztin mit einem tapferen Lächeln. In ihren Ballerinas konnte sie kaum noch laufen. Nach der Blutabnahme wird ihr plötzlich schummrig, Steffi gibt ihr eine Infusion und freundliche Worte. Gegessen hat die Patientin heute Abend noch nichts, auch in ihrem Hotel war sie noch nicht. Sie bekommt alkoholhaltige Umschläge und eine Korkschiene um den linken Fuß, dann muss auch sie auf die Blutwerte warten. Sie wirkt etwas verloren auf ihrer Liege, alleine in der Notaufnahme in einer fremden Stadt.
Inga öffnet die Schiebetür, der Krankenwagen mit der Patientin aus dem Flugzeug ist da. Sie ist ansprechbar und stabil. Die Angehörigen wollen zuerst nicht einsehen, dass sie draußen warten müssen, sie sprechen nur mäßig gut Deutsch. Die Patientin wird in den Behandlungsraum gebracht, Blut wird ihr abgenommen, ein Kreislauf-EKG gemacht. Das Gehirn soll später im CT untersucht werden.
Draußen im Wartebereich wacht Martin auf. Er ist in gewisser Weise ein Sonderfall, denn er ist der Liebling der Station. Zumindest, wenn er gute Laune hat, und die hat er jetzt gerade nicht. Er motzt lautstark, aber unverständlich über etwas. Steffi herrscht ihn an, sich mal zu benehmen. Martin bleibt wie angewurzelt stehen — grinst dann sein zahnloses Grinsen und hebt entschuldigend die Hände, die fast zu groß für seinen mageren Körper wirken. „Och, Schatz, bin doch grad erst wach geworden“, nuschelt er. „Weißt du wer gestorben ist?“, fragt er dann aufgeregt. Die beiden verschwinden für eine Zigarette vor dem Gebäude. Dann verschwindet Martin oberkörperfrei in die Nacht, seine Jacke schleift er achtlos hinter sich her.
In Behandlungsraum vier versorgt Inga gerade eine ältere Dame, die mehr oder weniger bewusst ihre Blutdruck-Tabletten abgesetzt hat.
Plötzlich rennt Inga los, trifft Steffi auf dem Flur, sie rennen weiter zur Sechs: Die Patientin aus dem Flugzeug krampft wieder. Die Angehörigen müssen das Zimmer sofort verlassen, sie weinen auf dem Flur. Die Ärztin verordnet etwas gegen die Krämpfe, dann wird die Patientin auf die Intensivstation gebracht.
Steffi und Inga atmen durch. Sie setzen sich auf die Liege im Schockraum, eine rote Linie auf dem Fußboden führt von der Einfahrt bis in diesen Raum. „Heute Morgen um sechs Uhr lag hier noch eine junge Frau, die von der Oberkasseler Brücke in den Rhein gesprungen ist“, sagt Steffi. Nach dieser Schicht ist sie schlecht eingeschlafen, über die Frau habe sie noch etwas nachdenken müssen. Die Frau hat überlebt, sie wurde wegen Suizidgefahr in eine psychiatrische Klinik gebracht.
Eine ganze Woche lang haben zwei Schwestern oder Pfleger Nachtschicht, in der Regel danach aber auch sieben Tage frei. Das Wichtigste: „Vor der ersten Schicht mache ich meine Wohnung piekfein fertig, dann muss ich den Rest der Woche nur noch ins Bett fallen“, erzählt Inga. Viel schaffe man nicht in der Zeit. Sport treiben, Freunde treffen, das sei bei dem verschobenen Rhythmus schwer machbar.
Es kommen weitere Krankenwagen, ein Mann mit Atembeschwerden, einer mit entzündetem Blasenkatheter und mehrere kleinere Notfälle melden sich am Empfang. Unter ihnen ein junger Mann mit stattlichem Oberarm. Er habe seit dem Training heute Abend leichte Schmerzen im Oberschenkel. Mittlerweile ist es fast null Uhr.
„Wir beobachten, dass immer öfter Leute mit Kleinigkeiten herkommen. Oft könnte man auch ganz einfach bis zum nächsten Tag abwarten und zum Hausarzt gehen. Viele denken aber, hier geht es ja doch am schnellsten“, sagt Inga. Sie wolle aber niemandem das Gefühl geben, sie nehme ihn nicht ernst. „Dann wäre ich hier falsch“, sagt sie.
Um zwei Uhr schieben zwei Sanitäter Martin durch die Schiebetür. Er zittert stark und hustet ununterbrochen. Die Polizei hat den Rettungswagen gerufen. „Du schon wieder!“, ruft Steffi. Sie schiebt ihn in den Schockraum und drückt ihm das Beatmungsgerät auf die Nase. Martin hustet und röchelt, presst ein „Ich sterbe!“ hervor. „Nicht in meiner Schicht“, poltert Steffi zurück. „Was musst du alter Nudist auch immer oben ohne rumlaufen?“ Die Ärztin kommt und hört ihn ab. Nach ein paar Minuten lässt sein Husten nach, er ist noch sehr betrunken und redet vor sich hin. Wenig später schläft er ein.
Dann wird es ruhig auf der Station. Außer Martins Schnarchen und dem Geräusch der Tastatur, auf der Inga am Empfang die Medikamentenbestände eingibt, ist wenig zu hören. Im Schwesternzimmer, wo die beiden es sich dann gemütlich machen, gibt es einen Fernseher im Schrank, durch ein Fenster können die Nachtschwestern immer den Eingangsbereich sehen. Die Klingel ist auch laut genug. Wenn jemand klingelt. „Fast schon komisch, wie wenig heute los ist“, sagt Steffi. Inga nickt.
Gegen vier Uhr schleppt sich eine Frau vor die Glasscheibe, die sich vor Schmerzen nur so krümmt. Ihre fast erwachsene Tochter begleitet sie, sie sieht ängstlich aus. In zwei Tagen hat die Patientin einen OP-Termin in einem anderen Krankenhaus, ihr soll die Galle entfernt werden. Heute Nacht hat sie plötzlich starke Schmerzen bekommen. Steffi bespricht sich im Behandlungsraum mit der Ärztin, gibt der Patientin starke Schmerzmittel. Wenn die nicht helfen, muss die Ärztin operieren.
Die entscheidet sich später aber dagegen. Nicht die Galle, sondern eine Magenschleimhautentzündung sei der Grund für die Schmerzen. Unter den verzweifelten Blicken ihrer Tochter tigert die Frau am Tropf weiter durch den Behandlungsraum, hockt sich hin, kniet sich auf die Liege, bis die Schmerzmittel endlich wirken.
Erneut wacht Martin im Wartebereich auf. Er tapert zur Anmeldung, durch die Luke in der Glasscheibe schäkert er ein wenig mit Inga, die ihn charmant aber bestimmt dazu verdonnert, endlich mal ein Unterhemd zu tragen. Das Krankenhaus hat einen großen Fundus an gespendeter Kleidung, das meiste davon will Martin aber nicht haben. Aber seinen Rucksack hätten „die Schweine“ ihm geklaut, jetzt sind Rasierer und Nagelfeile weg. Und die sind ihm wichtig. Tatsächlich macht er einen fast schon pingeligen Eindruck, wenn die Rahmenbedingungen und der Alkoholpegel nicht wären. Er legt sein Laken akkurat zusammen und räumt seine Wasserflasche weg. Das mache er immer, sagt Inga. Zum Friseur geht er auch, so oft er kann.
Als sich um Viertel nach sechs die Schiebetür öffnet und der erste Kollege der Frühschicht eintritt, fällt Steffi ihm um den Hals. Nach der Übergabe setzt sich Steffi draußen auf eine Stufe und wartet auf Inga, die sich noch umzieht. Martin stolpert aus der Notaufnahme und setzt sich vor sie auf den Boden. Das Unterhemd trägt er noch. „Du hast geschnarcht“ sagt Steffi. „Was, ich? Voilà, dann muss ich betrunken gewesen sein“, sagt er und lacht laut und rau.
Manchmal muss Martin die „Mädels“ vor aggressiven Patienten auch verteidigen, sagt er. „Diese Bekloppten, manche können einfach nicht dankbar sein! Hinlegen, Klappe halten und schlafen.“ Er ist dankbar. Er stand auch schon mit einem Strauß Rosen vor der Notaufnahme. Er sagt, später bringe er wieder Rosen vorbei, fragt, welche Farbe Steffi am liebsten möge. Orange. Dann steht er auf. „Ich muss los, muss Schnaps holen.“