Düsseldorf Karlo ist blind — aber ein normales i-Dötzchen

Der Sechsjährige geht auf eine Regelschule. Er muss zwar eine ganz eigene Schrift lernen, aber in der Pause spielt er mit allen Jungs Fußball.

Foto: Sergej Lepke

Düsseldorf. Karlos Hände tasten verstohlen über den Tisch, bis sie den Rand des Tellers berühren. Ein Lächeln huscht über das Gesicht des Sechsjährigen, als er einen der Kekse zwischen seinen Fingern hat und ihn sich schnell in den Mund schiebt. Innerhalb von Sekunden hat Karlo gezeigt: Das Wichtigste klappt noch. Deshalb geht er ja auch auf eine ganz normale Grundschule. Obwohl er blind ist.

Das war Karlo nicht immer. Eine Thrombose in seinem Kopf hat den Sehnerv beschädigt. „Sie ist aufgetreten, ohne dass wir es gemerkt haben“, erklärt seine Mutter Hülya Ö. — die Familie möchte lieber anonym bleiben. Als Karlo vier Jahre alt war, fiel den Eltern auf, dass er immer näher an sein Essen heranrückte. „Wir dachten, er wäre extrem kurzsichtig“, sagt Vater Achim B., „dann erkannte er irgendwann seine ältere Schwester nicht ...“

Beim Arzt stellte sich heraus: Karlo hat nur noch zwei Prozent Sehkraft auf seinem rechten Auge, absolut keine auf dem linken — gilt somit offiziell als erblindet. Seine Krankheitsgeschichte sei „eine Rarität“, erklärt Katja Severing, Chefärztin der Augenklinik am Marien-Hospital. Von jetzt auf gleich stellte sich für Karlos Familie die Welt auf den Kopf — für ihn aber hatte sie sich langsam, schleichend verändert. Er hatte sich daran gewöhnt, dass sie nur noch aus Schatten bestand — und er kam gut damit zurecht.

Er blieb deshalb in seiner Kita, ging nur zur Frühförderung an der Karl-Tietenberg-Schule für Sehbehinderte. „In Rücksprache mit allen Pädagogen haben wir dann entschieden, dass eine Regelschule für ihn das Beste ist“, sagt Karlos Vater. Schließlich reden doch dieser Tage alle von Inklusion.

Dass zwischen diesen Reden und der Realität allerdings noch eine weite Schere klafft, hat Mutter Hülya Ö. schon in den ersten Monaten festgestellt. „Inklusion wird in der Öffentlichkeit hoch gehandelt. Aber ohne persönliches Engagement geht nichts.“ Zu Karlos Glück seien an der Grundschule alle Beteiligten gleich zu diesem Engagement bereit gewesen.

Das Problem erklärt Elisabeth Stiebeling vom Düsseldorfer Blindenverein, selbst stark sehbehindert: „Für Karlo muss ein viel größerer Aufwand betrieben werden als etwa für ein gehbehindertes Kind.“ So muss der Sechsjährige etwa eine ganz eigene Schrift lernen. Die Brailleschrift. Dabei werden mit einer Maschine Punktmuster ins Papier geprägt.

Karlo hat eine spezielle Lehrerin, die ihm nur diese Schrift beibringen soll — für 4,6 Stunden in der Woche. „Das ist eigentlich ein Witz“, sagt Vater Achim B. Wer dem Kind die Braille-Maschine für die Schule und seine Hausaufgaben bezahlt, ist zudem noch gar nicht geklärt. Die Krankenkasse jedenfalls weigert sich bislang. Hülya Ö.: „Die 3000 Euro haben wir jetzt vorgestreckt.“ Achim B. zieht ein eher durchwachsenes Fazit: „Alle wollen Inklusion — aber keiner will’s bezahlen.“

Immerhin eine Inklusionshelferin hat Karlo in der Schule ständig an seiner Seite. Obwohl er sich im Gebäude inzwischen sicher zurechtfindet. „Er speichert viel ab“, sagt sein Vater. Selbst beim Fußballspielen ist er dabei, die Umrisse des Tors kann er noch grob erkennen. „In der großen Pause kriege ich fast nie den Ball“, berichtet Karlo selbst. „Aber in der Nachmittagsbetreuung schon.“ Da habe er auch schon selbst getroffen. „Kinder sind da zum Glück sehr unkompliziert“, sagt der Vater. Karlos Blindheit sei in der Klasse so gut wie gar kein Thema.

Dass sich das irgendwann ändern könnte, ist den Eltern bewusst. Achim B.: „Die Schere wird auseinandergehen. Karlo kann viel — aber eben nicht alles.“ Seinen früheren Berufswunsch Feuerwehrmann hat der Sechsjährige schon ganz selbstständig zu den Akten gelegt.

Nach Meinung von Elisabeth Stiebeling zeigt der Fall Karlo, wo Düsseldorf derzeit beim Thema Inklusion steht. Es müsse dringend mehr differenziert, individuell auf die Behinderung und die Bedürfnisse des Kindes geschaut werden. Und: „Es müsste noch viel mehr Integrationshelfer geben.“ Aber sie glaubt auch: „Insgesamt ist Düsseldorf auf einem guten Weg.“ Sie selbst habe damals noch auf eine 60 Kilometer entfernte Blindenschule gehen müssen, ins Internat. Das muss Karlo heute nicht mehr.