Ballett extrem: Marlúcia do Amaral

Die 31-Jährige bekam vom Arzt Ballett verordnet. Daraus wurde eine Erfolgsgeschichte.

Düsseldorf. Marlúcia do Amaral sitzt vor dem Fernseher, als der Anruf kommt. Ihr Jahresvertrag für eine Rolle in dem Musical "Tabaluga & Lilli" liegt auf dem Tisch, am nächsten Tag soll sie ihn unterschrieben zurückbringen. Dazu jedoch kommt es nicht mehr.

Am anderen Ende der Leitung ist Martin Schläpfer. Der heutige Ballettdirektor der Rheinoper ist damals noch Leiter des Ballett Mainz, er bietet do Amaral einen Platz in seiner Compagnie an. "Wenn er einen Tag später angerufen hätte, hätte ich ein echtes Problem gehabt", sagt do Amaral. "Denn aus dem Musicalvertrag wäre ich nur mit einer hohen Geldstrafe herausgekommen."

Das Leben der Brasilianerin ist voll von solchen Wendepunkten. Seit zehn Jahren ist sie jetzt bei Martin Schläpfer und tanzt tragende Rollen, beeindruckt mit einem Solo im aktuellen Ballett b.05 und schockiert in der Uraufführung "Neither", in der sie die pure Lebensangst in Wahnsinn übersetzt und als körperlich Entstellte auf das Publikum zustolpert. "In den Biografien von Morton Feldmann und Samuel Beckett spielt ihr Unbehagen dem Leben gegenüber eine große Rolle. Das wollte ich ausdrücken."

Schläpfer empfindet ihren Auftritt als beängstigend für das Publikum, doch die Tänzerin setzt sich durch. "Das Leben ist so, das ist die Wahrheit."

Wenn die 31-jährige do Amaral auf der Bühne steht, dreht und biegt sie sich in alle Richtungen, dirigiert Beine und Füße in Extrempositionen. Bevor sie zu tanzen anfing, war es genau umgekehrt, da litt sie unter ihrer Anatomie. "Ich hatte als Kind X-Beine und musste orthopädische Schuhe tragen. Der Arzt empfahl meiner Mutter, mich zum Ballett zu schicken. Das werde helfen."

Anfangs ist sie davon wenig begeistert, denn ihre Unterrichtstunden fallen auf den Sendetermin ihrer Lieblingsserie Micky Maus. "Aber nach zwei Jahren fing es an, mir Spaß zu machen."

Marlúcia hat Talent. Bereits mit sieben Jahren tanzt sie auf der Spitze und beherrscht die Choreographien schneller als alle anderen. Mit 14 ist sie sicher, dass ihre Realität keine Schnittmenge mehr hat mit einem Kleine-Mädchen-Ballerina-Traum und sie eröffnet ihren Eltern, sie wolle Profitänzerin werden.

Sie unterstützen die Tochter ideell und finanziell, soweit es ihr Mittelklasse-Budget zulässt. "Toll war, dass meine Eltern die Bedenken aus- und mit mir besprochen haben, mich aber gleichzeitig darin bestärkten, meine Wahl in aller persönlichen Freiheit zu treffen", sagt do Amaral.

Von da an führt ihr Weg geradewegs in die besten Ausbildungsstätten: Stipendium an der Ballettschule von Havanna, Stipendium an der Joffrey Ballet School in New York, Tanzwettbewerbe, die von Erfolg gekrönt sind, schließlich ein Vertrag mit einer Compagnie in Chicago.

Glücklich macht sie diese Karriere jedoch nicht. "New York war für mich ein Schock, die Tanzszene dort ist sehr hart, und ich war einfach noch nicht reif für Ellbogengefechte." Die junge Frau ist 18 Jahre alt und nervlich am Ende. "Ich wusste, ich werde depressiv, wenn ich bleibe."

Sie kehrt zurück nach Brasilien, sperrt ihre Tanzschuhe in den Schrank und fängt an, Schauspiel zu studieren. Übers Ballett sagt sie kein Wort. Zwei Jahre dauert dieser Zustand, dann meldet sich eine Freundin, die sie zu einer Vorstellung einlädt. Marlúcia zögert, geht aber schließlich hin. "Als ich sie tanzen gesehen habe, sind mir die Tränen übers Gesicht gelaufen. Ich konnte gar nicht mehr aufhören."

In diesem Moment ist ihr, als drehe sie sich in Windeseile um die eigene Achse. Sie nimmt das Training in ihrer ersten Ballettschule wieder auf. Nach sechs Monaten tanzt sie einen Wettbewerb und gewinnt ein Stipendium an der Hochschule für Musik in Mannheim. Dort trifft sie Martin Schläpfer. "Ich wusste sofort: Mit diesem Choreographen willst du arbeiten."

Der entscheidende Anruf kommt ein Jahr später.