Choreograf lässt den Wolf von der Leine

Martin Schläpfer bereitet seine nächste Premiere vor — es geht um Sex und Poesie.

Düsseldorf. Der Anfang einer Choreografie ist für Martin Schläpfer immer heikel. Ein Grundgefühl für den Beginn sei zwar da, sagt er, aber dann folgt ein ständiges tastendes Ausprobieren und Verwerfen. Es ist ein wenig wie der erste Satz eines Romans. Es ist ein Probentag zu Schläpfers neuem Stück „Unleashing the wolf“, und die sieben Tänzerinnen gruppieren sich im Probensaal zu einem Bild romantischer Freundschaft.

In Zweier- und Dreiergruppen lehnen sie Körper und Köpfe vertraulich aneinander. Ein inniges Bild, bis plötzlich beim ersten Paukenschlag der Musik von Paul Pavey die Köpfe hochschnellen und alle das rechte Bein nach vorne auf die Spitze stellen: ein aggressives, herausforderndes Statement.

Noch bevor die Probe beginnt, scherzen die Tänzerinnen, heulen plötzlich wie Wölfe. Den Wolf von der Leine lassen, so die Übersetzung von „Unleashing the wolf“. Martin Schläpfer will das nicht nur im Sinne von Grenzüberschreitung, von Aggression oder sexuellem Bedürfnis verstanden wissen. Er kann sich auch Zärtliches, Poetisches und Mikrobewegungen vorstellen. „Die Frage ist immer, was vor der Entscheidung lag“, sagt Schläpfer.

Kaum haben die Tänzerinnen den Akzent gesetzt, weicht der Fuß schon wieder zurück. Es ist ein leichter Spannungsabfall, um dann noch aggressiver in eine Überdehnung vorzuschnellen, die die Körper sich aufbäumen lässt. Schläpfer korrigiert minutiös, probiert selbst aus. Begeistert läuft er zu den Tänzerinnen, studiert eine Fußbewegung, zerlegt sie in Details und ruft dann plötzlich „That’s it!!“ — nur um bei der Wiederholung neu anzusetzen.

So gelöst die Stimmung scheint, es herrscht eine hochgespannte, fast klirrende Konzentration. Auf die Frage, was ihn an dem Thema gereizt hat, sagt Schläpfer: „Ich finde es spannend, mit der Unsicherheit zu spielen.“ Das betrifft zum einen die Musik von Paul Pavey.

Die beiden kennen sich seit Jahren und haben kongenial bei den Choreografien „In my day and night“, „Ein Wald, ein See“, „3“ und „5“ zusammengearbeitet. Die Musik zu „Unleashing the wolf“, die mit Schlagwerk, Gesang und Klavier sehr reduziert besetzt ist, existiert bisher nur als klangliche Verlaufsskizze.

Pavey wird bald nach Düsseldorf kommen und in Reaktion auf den Probenprozess am Material weiterarbeiten. Der Komponist ist zugleich sein eigener Interpret. „Ich habe Hunger auf ihn als Performer“, sagt Schläpfer und will seinen Partner in der Bühnenmitte auf einem Podest „wie einen Gefängniswärter“ postieren.

Eine weitere Unsicherheit besteht darin, dass die Choreografin Regina van Berkel Intermezzi zu Schläpfers Stück einstudieren wird. Sie soll ihre Ideen in „Unleashing the wolf“ hineinschieben. „Ich mache mein Stück und sie reagiert darauf“, sagt Schläpfer. Beide arbeiten derzeit unabhängig voneinander mit den Tänzern. Schläpfer spricht von einem offenen Prozess, der am Ende auch scheitern könne.

Jedoch nicht nur mit Regina van Berkels Intermezzi, auch mit drei weiteren Choreografien wird sich die neue Arbeit arrangieren. Neben „Unleashing the wolf“ werden Hans van Manens „Two“ und „Solo“ sowie Schläpfers „Streichquartett“ zu sehen sein.