Salzburger Festspiele Janine Ortiz: „Meine Vorliebe für alptraumhafte Situationen passt gut zur Oper“

Düsseldorf · Die Dramaturgin am Schauspielhaus spricht über ihren Einsatz bei den Salzburger Festspielen.

Janine Ortiz arbeitet als Dramaturgin am Schauspielhaus Düsseldorf.

Foto: Michaelis, Judith (JM)

Als Regisseur ist Evgeny Titov in Düsseldorf kein Unbekannter. In zwei Spielzeiten lieferte der 39-jährige St. Petersburger zwei packende Inszenierungen. Nach Arthur Millers  „Hexenjagd“ folgte Michail Bulgakows „Hundeherz“ (wir berichteten). Sein Name hat sich von Düsseldorf aus herumgesprochen. So hat er als Einspringer (für die renommierte slowenische Regisseurin Mateja Koležnik) bei den Salzburger Festspielen Gorkis „Sommergäste“ herausgebracht. Als packendes Tableau einer überdrüssigen Spaß-Gesellschaft, die vor lauter Langeweile sich und die anderen demontiert, Selbstmord inklusive. Titov wurde unterstützt von Janine Ortiz, der versierten Dramaturgin des Schauspielhauses. Die WZ sprach in Salzburg mit ihr.

Frau Ortiz, wie erfuhren Sie, dass Sie mit Evgeny Titov nach Salzburg fahren?

Janine Ortiz: Evgeny hat mich angerufen, nachdem er das Angebot erhalten hatte, für die erkrankte Mateja Koležnik einzuspringen. Es war ein großes Wagnis, fünf Wochen vor Probenbeginn eine so umfangreiche Produktion zu übernehmen. Das Bühnenbild war bereits in der Fertigung, konnte aber in den Details noch auf uns angepasst werden. Alles weitere musste in kürzester Zeit ausgedacht und umgesetzt werden.

Wie fühlen Sie und Herr Titov sich als Einspringer?

Ortiz: Wie zwei Kinder, die den Ferrari der Eltern klauen und damit so richtig losbrettern. Es ist alles eine Nummer zu groß, man schwankt zwischen Angst und Freude. Für solche Gefühle ist aber nur in einzelnen Augenblicken Zeit. Die Arbeit wischt sie schnell beiseite. Vom Team der Festspiele und von Schauspielern wurden wir herzlich aufgenommen.

Was genau war Ihre Arbeit als Dramaturgin?

Ortiz: Wir haben viel Zeit in die Textfassung investiert und Gorkis eher fließende, sich über vier Akte erstreckende Dramaturgie zu einem Dreiakter hin komprimiert. Es ging darum, den „Sommergästen“ (ein klassisches Konversationsdrama) hochdramatische Szenen abzugewinnen.

„Sommergäste“ – was ist das Besondere daran?

Ortiz: Gorkis Stück zeichnet ein breites Panorama des entwurzelten, an Egoismus, Selbstentfremdung und Langeweile erstickenden Bürgertums. Alle reden, keiner handelt. Man muss erschreckend wenig tun, um diesen Text zu aktualisieren. Ich kenne die Verfilmung von Peter Stein. Als Edith Clever (sie spielte damals die Rolle der Warwara), die aktuell bei den Festspielen im „Jedermann“ auf der Bühne steht, uns bei den Proben besucht hat, war das ein besonderer Moment.

„Sommergäste“ spielt am Vorabend von Revolutionen in Russland. Stellen Sie einen aktuellen Bezug her?

Ortiz: Zu Gorkis Zeiten machten Adel, Großbürgertum und Bourgeoisie weniger als fünf Prozent der Bevölkerung aus, der Rest lebte in Armut und ohne Bildung. Heute macht der „Mittelstand“ das Gros der Bevölkerung im Westen aus. Eine Revolution „von unten“ scheint schwer vorstellbar. Wenn sich etwas ändern sollte, dann aus der Mitte der Gesellschaft. Kurz: Die Sommergäste, das sind wir.

Wie geht Titov als Russe an diesen Gorki-Stoff heran?

Ortiz: Es ist ein Vorteil, dass er den Text im Original lesen kann. Eine Übersetzung ist immer eine Interpretation. Es gibt aber keinen „russischen“ Zugriff. Im Gegenteil: Unsere Schauspieler stammen aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Slowenien, Russland und den USA.

Es gibt problematische Stellen in punkto Verständnis von Frauen.

Ortiz: Ja, am Schluss gibt es eine Passage, in der sich eine Gruppe gut situierter Männer sehr abfällig über Frauen äußert, sie u.a. als „mindere Rasse“ bezeichnen. Um 1904 war das eine allgemein anerkannte These. Heute wirken solche Texte fremder, barbarischer, entlarvender, als sie es vermutlich zu Gorkis Zeiten taten. Wie man damit auf der Bühne umgeht, wurde auf den Proben so heftig diskutiert wie sonst nichts. Wir haben uns schweren Herzens entschieden, diesen Textstellen einen Platz einzuräumen.

Erkennt man an Titovs Regie, dass er auch Opern inszenieren wird?

Ortiz: Er hat ein exzellentes Gespür dafür, Menschen im Raum zu positionieren und mit großen Gruppen auf der Bühne umzugehen. Manchmal scheint es, als sei das Gemälde eines  Alter Meisters lebendig geworden. Das ist für das Musiktheater hilfreich. Auch seine Vorlieben für alptraumhafte, surreale Situationen und eine fast unerträgliche dramatische Spannung passen gut zur Oper. Ich freue mich auf Evgenys Debüt am Staatstheater Wiesbaden und an der Komischen Oper Berlin.

Mit welchem Team werden Sie die neue Spielzeit in Düsseldorf beginnen?

Ortiz: Los geht es am 22. September mit der Uraufführung von Helene Hegemanns Roman „Bungalow“ in der Regie von Simon Solberg, dicht gefolgt von Kiplings „Dschungelbuch“ in der Regie von Robert Wilson am 19. Oktober. Das ist eine große Spannweite – von einer der radikalsten Jung-Autorinnen hin zum Altmeister abstrakten Theaters. Besser könnte ich es mir nicht wünschen. 

Viel Jubel gab es für das Regieteam nach einer gelungenen Premiere. Und bedrückenden Raum-Bildern mit einigen Schauspieler-Größen, wie Martin Schwab (Onkel Semjon), Marie-Lou Sellem (Ärztin Marja), Thomas Dannemann (Schriftsteller Jakow) und Genija Rykova (Warwara). Kritik folgt im überregionalen Kulturteil.