Herr Grotegut, Ihr aktuelles Stück heißt „Der Schnee von gestern“. Was sind Ihre ersten Erinnerungen an Schnee?
Norman Grotegut vom Kinder- und Jugendtheater Pulk Fiktion „Ich fühlte mich vom Schnee im Stich gelassen“
Interview | Düsseldorf/ Köln · Als Teil des Kollektivs Pulk Fiktion ist der Schauspieler im Stück „Der Schnee von gestern“ im Forum Freies Theater zu sehen. Ein Gespräch über die Veränderungen des Körpers, des Klimas und der Gesellschaft – und den Wunsch, etwas festzuhalten.
Grotegut: Es gibt sicher noch ältere Erinnerungen, aber am meisten geprägt hat mich mein Wunsch als Kind, unbedingt Skifahren zu wollen. Ich komme aus Dresden. Als ich klein war, lag dort ab dem Jahreswechsel meist richtig viel Schnee. Mit sechs oder sieben Jahren bekam ich dann endlich Skier, aber genau ab dann gab es nicht mehr viel Schnee. Ich war regelrecht beleidigt darüber. Ich sehe mich noch mit meinen Langlaufskiern über die dünne Schneedecke kratzen. Damals fühlte ich mich vom Schnee im Stich gelassen.
Das Bühnenstück scheint kritisch auf den Klimawandel anzuspielen. Steht der Schnee für eine kritische Betrachtung des Klimawandels?
Grotegut: Der Klimawandel kommt darin vor. Aber das Thema unseres Stücks ist allgemeiner gefasst: Es geht um Veränderungen und Stillstand, um Sich-Erinnern und Loslassen. Das Klima hat sich auch verändert. Es gibt hierzulande weniger Schnee, es wird nicht mehr so kalt. Diese klassischen Winterwelten gibt es bei uns so nicht mehr. Mit O-Tönen von Kindern im Alter der Zielgruppe von „Der Schnee von gestern“ und mit Fragen an unser Publikum und uns selbst laden wir dazu ein, sich mit den vielstimmigen Positionen abzugleichen, sich zu frage: Wie empfinde ich das? Das Schnee-Thema taucht immer wieder auf. Meine Kollegin Katharina sagt im Stück zum Beispiel, dass sie das Gefühl vermisst, lange auf einem Rodelberg zu sein, die endlos erscheinende Zeit an einem kalten Wintertag.
Kinder wachsen aber meist ohne dieses frühere Schneegefühl auf. Was geht da verloren?
Grotegut: Ich denke, dass Schnee ein Faszinosum für uns alle bleiben wird. Er fällt vom Himmel, zeichnet unsere Umgebung weich, macht alles langsam und leise. Schnee verändert sich, wenn man ihn anfasst. In diesem Aggregatzustand nehmen wir das Wasser sonst nicht wahr. Die Begegnung damit geht vielleicht verloren. Aber das Bild der Winterwelt wird sicher noch eine Weile erhalten bleiben. Allein die Coca-Cola-Weihnachtswerbung transportiert dieses Bild ja sehr vehement.
Wie machen Sie Veränderung greifbar?
Grotegut: In vielen kleinen Szenen und Fragen. Dabei geht es immer um Biografisches. Es geht immer um Veränderungen, die jemand erlebt hat, und andere, die sich dazu in Beziehung setzen: Und wie war das bei mir? Dazu gehört zum Beispiel auch der sich verändernde Blick über die Zeit hinweg auf ein und dieselbe Sache. Zeit und Erfahrungen schreiben sich in den Körper ein. Dann gibt es von meiner Partnerin Katharina initiiert auf der Bühne eine Tanzsequenz. In der Erlebniswelt ihres eigenen Ballettunterrichts wird der Blick frei auf Körper im Gestern und Heute und ganz unmittelbar in dem Moment im Theater zwischen Publikum und uns auf der Bühne zum Verhandlungsstoff. Es geht um Fettfeindlichkeit, vermeintliche Ideale, Wünsche und Erwartungen, deren Widersprüchlichkeit in uns selbst. Eine andere Episode handelt vom Berühmt-Werden. In kleinen Dialogen stellen wir fest, dass wir nicht berühmt geworden sind, obwohl wir Möglichkeiten gehabt haben. Dennoch stehen wir auf der Bühne und sind im Rampenlicht. Es geht in unserer Performance darum, Thesen anzusprechen, auf die unser Publikum gedanklich einsteigt und beginnt, sich innerlich Fragen zu stellen. Wir haben Szenen von großer Langsamkeit, aber auch Komisches. Wir lassen Konfetti-Schnee rieseln und trinken Tee.
Ist das Teetrinken ein Ritual dieser Langsamkeit?
Grotegut: Nein, das ist eine andere Situation. Teetrinken ist aber auch ein Anknüpfungspunkt. Er ist verbunden mit dem Spruch „Abwarten und Tee trinken“. Es hat mit Beruhigung und Entspannung zu tun. Die Langsamkeit, die ich meinte, findet in einer Sequenz mit O-Tönen statt. Da glitzert Schnee auf Pflanzen. Ich fahre mit dem Fahrrad, und das Auf und Ab der Stimmen wird durch das Flackern eines extra programmierten Lichts am Fahrrad wiedergegeben.
Sie sprechen von einer Sehnsucht nach Stillstand. Wie kann man Wichtiges festhalten?
Grotegut: Für mich hat es damit zu tun, etwas in schriftlicher Form zu bringen. Aber es kann sehr unterschiedlich sein: ein Tagebuch schreiben, durch einen Chat scrollen, alte Fotos teilen. Das Festhalten-Wollen ist ein konservativer Moment. Manchmal überfordert es einen, wenn sich die Dinge verändern. Körperliches Altern muss man lernen. Ich habe keine Haare mehr auf dem Kopf, aber das habe ich total akzeptiert. Außer ich stoße mir gerade den Kopf. Dann wünsche ich mir, dass ich doch Haare hätte, die den Stoß abdämpfen.
Wie finden Sie Ihre Themen?
Grotegut: Unsere Themen entwickeln sich aus den Fragen, die wir selbst an die Welt haben. Auch aus Gesprächen mit unseren eigenen Kindern oder Workshop-Teilnehmenden, aus Schulbesuchen und Interviews, die wir führen. Unsere eigenen Biografien sind ebenso eine Fundgrube für Themen, wie die täglichen Nachrichten.
An was arbeiten Sie gerade?
Grotegut: Derzeit sind wir vollauf mit der Planung für 2024 beschäftigt, recherchieren und entwickeln gerade ein Pulk-Fiktion-Bilderbuch.
Sie erhalten seit 2019 die Spitzenförderung für Kinder- und Jugendtheater des Landes NRW. Setzt Sie das unter Erfolgsdruck?
Grotegut: Es gibt uns eine gewisse Planungssicherheit, aber es reicht nicht aus als alleinige Finanzierung, obwohl es sich um keine ungeringe Summe handelt. Aber wir wollen so oder so etwas Gutes produzieren, mit oder ohne Spitzenförderung.
Sie machen Kinder- und Jugendtheater. Würden Sie sagen, Sie baben ein dankbares Publikum?
Grotegut: Es ist auf jeden Fall ein sehr unmittelbares Publikum, dass beim Schauen oder Hören sofort kommentiert. Man darf sich nicht erlauben, das Publikum zu langweilen.
Sind Kinder und Jugendliche heute schneller gelangweilt als früher?
Grotegut: Sind wir nicht genauso schnell gelangweilt? Ich scrolle auch durch Instagram und werde immer schneller, entscheide, das interessiert mich, das nicht. Das ist keine Frage des Alters. Ein Bühnenstück muss vermitteln: Das hat etwas mit mir zu tun. Das betrifft mich. Ich bin gemeint. Beim Vorspielen eines historischen Sprechtheaterstücks – nehmen wir mal William Shakespeare – muss das Publikum eine größere Brücke zum Text schlagen können, vielleicht auch zur Spielweise der Schauspielerinnen und Schauspieler. Wir wählen oft einen offenen, unmittelbaren
Sprechton.
Haben Sie denn heute ein entspanntes Verhältnis zum Schnee?
Grotegut: Ja, unbedingt. Ich bin Wahl-Kölner. Ich freue mich heute, wenn es schneit. Und ich akzeptiere, dass der Schnee selten kommt, manchmal nur ein paar Flocken und meist auch nicht lange liegen bleibt.