Tanzhaus NRW Annie Ernaux‘ „Jahre“ als Solo getanzt

Düsseldorf · Der Choreograf Marco D’Agostin bringt die Autobiografie der Autorin Annie Ernaux auf die Bühne. Das Stück „Die Jahre“ wurde jetzt im Tanzhaus NRW uraufgeführt.

 Mit Marta ­Ciappina begibt sich das Publikum auf eine ­Zeitreise.

Mit Marta ­Ciappina begibt sich das Publikum auf eine ­Zeitreise.

Foto: Michelle Davis

Die Bühne im kleinen Saal des Tanzhauses NRW ist leer, bis auf einen Tisch und einen Monitor, der über ihr schwebt. Die barfüßige Marta Ciappina bewegt sich durch den Raum, wechselt dabei immer wieder das Tempo. Bleibt stehen und scheint in die Vergangenheit zu lauschen, den Blick auf das Publikum gerichtet. Kein Laut ist zu hören. Gebannte Stille, als die Tänzerin kurz im Off verschwindet, um mit einem Rucksack wieder die Bühne zu betreten. Er steht symbolisch für all das, was ein Leben so ausmacht. Das Päckchen gewissermaßen, das alle mit sich tragen.

Das Stück „Die Jahre“, das am Freitagabend im Tanzhaus NRW Uraufführung hatte, lehnt sich an die autobiografischen Skizzen von Annie Ernaux an. Die Schriftstellerin hatte ihre Memoiren alles andere als klassisch angelegt. Zu viel gab es in „Die Jahre“ zu reflektieren und in Bezug zu anderen Leben zu stellen. So näherte sie sich ihrem Projekt über Fotografien und Videoaufnahmen, Schlüsselmomente aus dem kollektiven Gedächtnis ihrer französischen Landsleute, Liedtexten und Werbeslogans.

Ähnlich geht auch Choreograf Marco D’Agostin an ihre Biografie heran, die er für seine Tanzperformance „Die Jahre“ mit Marta Ciappina jetzt auf die Bühne des Tanzhauses NRW bringt. Kein leichtes Unterfangen, weil es beim Publikum schon ein gewisses Hintergrundwissen über die Schriftstellerin und ihr Wirken voraussetzt. Natürlich kann die Bühnenadaption auch als selbstständige Performance gesehen werden, die ihren ganz eigenen Reiz hat.

Ernaux hatte für ihre Autobiografie die dritte Person als Erzählperspektive gewählt. So schaffte sie Distanz zu sich selbst und konnte gleichzeitig zu einer Repräsentantin ihrer Generation werden. Diese Tiefe erreicht D’Agostins Bühnenfassung nicht. Er beschränkt sich in der Umsetzung auf wenige Requisiten, die Marta nach und nach aus ihrem Rucksack hervorholt. Eine leere Flasche, eine Hundeskulptur oder ein Telefon. Ernaux‘ Erinnerungen umfassen mehrere Jahrzehnte, beginnen mit ihrem Geburtsjahr 1940 und dehnen sich bis zu aktuellen Ereignissen. Die Zeitsprünge werden von Marta durch Zahlen markiert, die sie immer wiederholt. Die Bezüge zur Vorlage bleiben jedoch abstrakt und lassen viel Raum für Interpretation durch das Publikum.

Zwischendrin wird es laut. Explosionen dröhnen über die Lautsprecher. Unweigerlich tauchen vor dem inneren Auge Kriegsbilder auf. Kurz bevor der Lärm unerträglich wird, bricht er ab. Die plötzliche Stille hat gleichsam etwas Bedrückendes und Befreiendes. Es folgen Videoaufnahmen eines Familienurlaubs, spielende Kinder am Meer.

Marta Ciappina trägt mit ihrer starken Präsenz die Performance mitreißend durch den ganzen Abend und schafft es, diejenigen, die Annie Ernaux noch nicht kennen, neugierig auf ihre Lebenserinnerungen zu machen. Wer ihr Werk bereits gelesen hat, bekommt Lust, noch einmal darin zu blättern.

Marco D’Agostin ist nicht zum ersten Mal Gast im Tanzhaus NRW. Im August 2022 war der Choreograf bereits Teil des internationalen Programms Artist in Residence. In seinen Arbeiten legt er den Schwerpunkt auf individuelle und kollektive Erinnerungen. Damit schafft er eine Identifikationsfläche für das Publikum. Seine Karriere begann er als Performer. Seit 2010 arbeitet er als Choreograf.

Info „Die Jahre“ ist noch einmal am 9. Dezember um 20 Uhr im Tanzhaus NRW, Erkrather Straße 30, zu sehen.