Düsseldorf Goethes Faust reist durch Stadt und Zeit
Der Goethe-Klassiker überzeugt als schräge Symbiose aus Film und Schauspiel in der Christuskirche. Die Inszenierung zieht jetzt weiter.
Düsseldorf. Verzweifelt und lethargisch sitzt Heinrich Faust da, seitlich zum Publikum, den leeren Blick in Richtung Kamera gerichtet. Er führt das mit Gift gefüllte Gefäß an seinen Mund und scheut erst im entscheidenden Moment vor dem „letzten, ernsten Schritt“ zurück. Weil plötzlich die Kirchenglocken läuten und er an seine Kindheit zurückdenkt.
Jene Szene gleich zu Beginn ist deshalb erwähnenswert, weil das Publikum nicht im Theatersessel, sondern auf Kirchenbänken Platz genommen hat. Und das Geläut wird nicht aus der Konserve eingespielt, sondern ertönt wahrhaftig. „Faust (to go)“, die mobile Variante des Goethe-Klassikers, macht diese Symbiose möglich. Denn zur Premiere am Wochenende machte die Produktion Station in der Oberbilker Christuskirche.
Regisseur Robert Lehniger inszeniert den ersten Teil des Klassikers als nächtliches Roadmovie in der Gegenwart. So geben sich Faust und Mephisto den „abgeschmackten Zerstreuungen“ der Walpurgisnacht mithilfe von Virtual-Reality-Brillen hin, während Gretchen verzweifelte Chat-Botschaften in ihr Smartphone eintippt. Einzig der Text von Goethe wurde zwar drastisch gekürzt, um in zwei Stunden Spieldauer zu passen, aber nicht in moderne Sprache übersetzt. Die Abweichungen vom Original lassen sich an einer Hand abzählen. Zum Beispiel, wenn Marthe ein „Scheiße“ rausrutscht oder Mephisto sie im Garten mit „Hola Chica“ begrüßt.
In einem Wohnwagen klappern Faust und Mephisto verschiedenste Orte in der Stadt ab: Rheinufer, Riesenrad, Fortuna-Büdchen. Auf einem Pausenhof stehen Schüler vor dem Wohnwagen Schlange, um sich von Faust ihre Reclam-Heftchen signieren zu lassen, während Mephisto im Inneren junge Frauen berät, die Kommunikationsmanagement studieren wollen. Der Trip endet schließlich wenig glanzvoll auf einem Autobahnrastplatz im Morgengrauen.
Die mobile Inszenierung soll in Zeiten widriger Umstände aufgrund der Baustelle am Gründgens-Platz als Einladung an die Düsseldorfer verstanden werden. Getreu dem Motto: Wenn die Zuschauer nicht ins Schauspielhaus kommen können, kommt das Theater eben zu den Zuschauern. Schon vor der Premiere am Samstag stieß das ungewöhnliche Theater-Experiment auf viel Interesse: Die Anfragen reichen bis in die nächste Spielzeit hinein.
Die Christuskirche als Spielort erwies sich als Volltreffer. Wenn Gretchen ihre berühmte Frage stellt („Wie hast du’s mit der Religion“), wirkt das in diesem Setting natürlich sehr stimmig. Zudem eröffnet der Ort viel Spielraum — im wahrsten Sinne des Wortes, zum Beispiel dann, wenn Faust plötzlich von der Empore aus das Geschehen beobachtet.
Schräge Einlagen mit viel Düsseldorfer Lokalkolorit auf der Leinwand und klassische Spielszenen im kargen Bühnenbild mit drei beleuchteten Tischen halten sich bei „Faust to go“ die Waage. Beide Elemente werden meist auf raffinierte Weise miteinander kombiniert, was von den fünf Schauspielern oft ein sekundengenaues Timing erfordert.
Auch sonst überzeugen Torben Kessler (Faust), Cennet Rüya Voß (Gretchen) und vor allem der gebürtige Wiener Stefan Gorski als charismatisch-schmieriger Mephisto mit zurückgegelten Haar und schwarzer Lederjacke. Jubel und Beifall bei der ausverkauften Premiere sind groß. Die mutige wie ambitionierte Idee ist am Ende aufgegangen.