Düsseldorf Inklusions-Drama mit Tanzeinlagen
Im Jungen Schauspielhaus inszeniert Regisseur Frank Panhans „Mr. Handicap“ — ganz ohne erhobenen Zeigefinger.
Düsseldorf. Der Junge Vincent ist durch versteifte Ellbogen in seiner Bewegung beträchtlich eingeschränkt. Doch dank des Inklusion-Gesetzes — genauer: der Behindertenrechts-Konvention der Vereinten Nationen von 2009 — muss er im Theaterstück „Mr. Handicap“ an eine ganz normale Schule. Die Sonderreglungen, die für ihn gemacht werden, und Alltagsprobleme mit sich selber, aber auch mit Eltern, Lehrern und Mitschülern, gehen ihm zwar auf die Nerven. Und manchmal sehnt sich Vincent an seine alte Sonderschule zurück.
Doch keine Chance: Weder für ihn noch für seine Klassenkameraden. In der I-Klasse (Inklusions-Klasse) müssen die „gesunden“ Jungs und Mädchen den sogenannten „Behinderten“ integrieren, ihm helfen und sich um ihn als Pate kümmern. Zumindest sammeln sie damit Pluspunkte auf dem Zeugnis im Sozialverhalten. Kann trotz dieser vielen Zwänge auf beiden Seiten eine echte Freundschaft entstehen?
Wohl kaum. Denkt man. Doch Thilo Reffert sieht das anders. In seinem Bühnenwerk „Mr. Handicap“, das jetzt im Jungen Schauspielhaus uraufgeführt wurde, haben es Vincent und sein Pate Hannes zwar verdammt schwer, sich zusammenzuraufen. Denn Hannes ist ein sportiver Charming-Boy, den Mädchen anhimmeln, und der mit seinem Daddy, einem Flugpiloten, in permanentem SMS-Kontakt steht. Klar, dass Hannes mit dem Beruf seines Vaters imponieren will — besonders der von vielen Jungs umschwärmten Mary-Lou. Jedenfalls gilt bei den Kids das Aufzählen internationaler Flughäfen als wesentlich cooler, als mit einem behinderten Klassenkameraden auf dem Schulhof zu spielen.
Doch nach emotionalen Achterbahnfahrten liegen sich Hannes und Vincent am Ende in den Armen — als echte, gute Freunde. Leicht könnte das als Pädagogen-Kitsch über die Rampe kommen. Doch Regisseur Frank Panhans verzichtet auf erhobene Zeigefinger, Selbstmitleid und rührselige Gutmensch-Duselei. Er setzt vielmehr auf beißenden Spott, manchmal auch schwarze Selbst-Ironie des behinderten Vincent, hat auch keine Panik vor politisch unkorrekten Wörtern. Letztere kommen einigen Figuren leicht über die Lippen, werden aber meist von anderen in Frage gestellt.
Panhans führt die Schwierigkeiten von Vincents Vater, seiner Lehrerin und seinen Mitschülern drastisch vor Augen, verpackt sie aber häufig ein rockige Musiknummern und elektrisierende Tanz-Einlagen. Diese Mischung aus ernstem Tonfall und Leichtigkeit begeistert und berührt reifere genauso wie jüngere Zuschauer (ab neun Jahren): Auf die Gefühlsschwankungen von Mr. Handicap reagieren die Jüngsten mal mit betretenem Schweigen, dann aber, wenn es angebracht ist, durch Kichern und Lachen. Bis zum lautstark bejubelten Finale wird ihnen klar: Es geht um den steinigen, mühsamen Weg, den (auch jüngere Menschen) zurücklegen müssen, um wahre Freunde zu werden.
Groß ist der Anteil der Schauspieler am Erfolg dieser Premiere. Hauptdarsteller Kilian Ponert trägt nicht nur körperlich die Behinderung über zwei Theaterstunden hinweg. Der jungenhaft wirkende schlaksige Mime zeichnet eindrucksvoll das Porträt eines Schülers, der mit allen Tricks — manchmal auch hinterlistig — gegen seine Paten (aber auch gegen Vater und Lehrerin) kämpft und intrigiert. Nur langsam lösen sich seine seelischen Verspannungen.
Locker indes tänzelt Jonathan Gyles als Hannes durch das originell kreisende und luftige Bühnenbild (Jan A. Schroeder). Gyles kämpft am meisten gegen sich und hadert mit der Welt. Und entlarvt dabei manche Ungereimtheiten des Inklusions-Gesetzes, das alle überfordert — diejenigen, die an einer Behinderung leiden, deren Mitschüler, Lehrer und Eltern. Ein großes Schauspiel- und Verwandlungstalent ist Paul Jumin Hoffmann, der sekundenschnell von einer Rolle in die nächste schlüpft und stets den richtigen Ton findet — als Vater (von Vincent, später dann von Hannes), als Schulfreund und Kontrolleur.