Tonhalle Warum die Sechste ein perfektes Finale für Fischers Mahler-Zyklus war

Düsseldorf · Die Düsseldorfer Symphoniker interpretierten mit ihrem Principal-Conductur eine der ganz besonderen Werke Mahlers in der Tonhalle. Wir beleuchten, was diese Musik und das Konzert so außergewöhnlich machte.

 Ádám Fischer durchdrang bei seinem Dirigat der Düsseldorfer Symphoniker in der Tonhalle auf beeindruckende Weise die Musik.

Ádám Fischer durchdrang bei seinem Dirigat der Düsseldorfer Symphoniker in der Tonhalle auf beeindruckende Weise die Musik.

Foto: ja/Susanne Diesner

Man wählt den Abschluss eines derart gewaltigen Zyklus wie die Aufführung sämtlicher Mahler-Sinfonien jeweils gepaart mit einem Haydn-Werk mit Bedacht. Es wird Gründe geben, dass sich Ádám Fischer für das grandiose Finale seiner Reihe mit den Düsseldorfer Symphonikern in der Tonhalle just die sechste Sinfonie Gustav Mahlers ausgesucht hat.

Es gibt oberflächlich gesehen spektakulärere, populärere – beispielsweise die Fünfte mit dem Adagietto, bekannt aus Viscontis Tod in Venedig – oder auch abschließendere Sinfonien, auf die die Wahl hätte fallen können. Doch macht es viel Sinn, Mahlers Sinfonie Nr. 6 in a-Moll, entstanden um 1904, als Schlusspunkt zu wählen. Die 1906 in Essen uraufgeführte Sinfonie kann als die konsistenteste, die für Mahler typischen Zutaten am kompromisslosesten und kraftvollsten durchexerzierende gelten. Nirgends treffen wir auf seinen Marsch so genial ausgeformt, nirgends treffen sich Mahlers sentimentale Kantilenen und seine Sehnsucht nach Ausdruck so erschreckend affirmativ mit Leiden an der Welt. Und die Sechste ist in seiner Anlage, seiner Struktur die wohl symphonischste. Indes durch den Filter eines übergroßen Zerrglases, das die Tradition augmentierend, verformend und dennoch in den Proportionen ihr verpflichtet bleibend in fast schmerzliche Sphären einer obsessiven Rekreation von unzähligen Erinnerungen und Inspirationsquellen entführt.

Mahlers Sechste mag eine große Verbeugung vor Schubert sein

Und – hier spekulieren wir ein bisschen – Mahlers Sechste ist eine große Verbeugung des 1860 geborenen Komponisten und Dirigenten vor Schubert. Ja Franz Schubert. Dafür gibt es etliche Indizien in der so akribisch verfassten – mehrfach umgearbeiteten – Partitur. Das passt natürlich ganz vortrefflich zu Fischers Sicht, dass Mahlers Musik vor allem auch aus der Wiener Tradition heraus begriffen werden muss. Was sich übrigens in der Aufführung beim jüngsten Sternzeichen auch wieder in vielen besonders herausragenden Momenten voller klangästhetischer Durchdringung zeigte.

Fischer leitete – erneut ohne Partitur, vollkommen auswendig wie von der Musik getrieben – das auf die hier notwendige stattliche Größe angewachsene Düsseldorfer Orchester todesmutig durch die monumentalen Klangmassen. Texturen gelangen Fischer und seinen ihm bisweilen euphorisiert folgenden Symphonikern, auf selten gehörte betörend überwältigende Weise. Kleinere – ja winzige – klangliche Blessuren gab es natürlich auch hier; immerhin wird mit größtem Gerät gearbeitet. Aber diese Streicher-Gesänge, voller Inbrunst, die an einen Skelett-Tanz erinnernden knöchernen Passagen, diese tiefgründige Phrasierungskultur, die Kraft und vor allem auch immer wieder bezaubernde Soli bei den Bläsern, ja, das entzückt. Gut, das unentwegte Reiten auf der großen Welle der zerrissenen Gefühle kann ermüden, doch die ruhigen, stillen – die Zeit zum Stehen bringenden – Momente gaben in Fischers überragend gelungener Interpretation Raum für transzendente Gedankenverlorenheit.

Ich schulde Ihnen noch die Auflösung der Angelegenheit mit Schubert. Zunächst gibt es in Mahlers Sinfonie eine bestimmende wie eine Gallionsfigur über allem thronenden musikalische Komponente. Aus einem Dur-Akkord lässt sich mithilfe der Erniedrigung des mittleren Tones – lediglich ein kleines Tönchens – ein Moll-Akkord machen. Eine Dur-Moll-Eintrübung. Die in Mahlers Sechster in der Partitur nicht nur versteckt immer wieder herumgeistert, sondern sogar ganz bewusst so niedergeschrieben ist, dass man ihre Bedeutung nicht übersehen kann. Das helle auch mal grelle Dur trübt sich in das dunklere, hier melancholisch düstere Moll. Immer wieder, begleitet von einem markanten rhythmischen Motiv. Die Dur-Moll Eintrübung gehört zu Schuberts Spezialitäten, der Rhythmus indes erinnert nicht nur im übertragenen Sinne an Schubert.

Doch das ist nicht alles. Eines der bestimmenden Themen der Mahler-Sinfonie ist, stellenweise sogar fast wörtlich, aus Schuberts Sonate für Klavier D 784 – auch in a-Moll, wie Mahlers Sechste! – entlehnt. Vielleicht. Wahrscheinlich? Unzählige andere Einflüsse, nicht nur von Schubert, aber auch und vor allem motivische Fragmente, durchwuchern diese Sinfonie, die, wenn es nach Mahler geht, „Rätsel aufgeben“ wird. Nun Fischer half uns in seiner Interpretation vielleicht einige davon zu lösen.

Zuvor beeindruckten die Symphoniker unter Fischers Leitung mit einer herausragend beseelt präzisen, perfekt balancierten Interpretation von Joseph Haydns Sinfonie Nr. 49 „La Passione“ – die mit ihrem von Fischer voller Inbrunst belebten zweiten Satz so etwas wie eine Vorahnung an Mahler transportierte.

Falls Sie es vermisst haben sollten: Über den „Hammerschlag“-Effekt im vierten Satz, der bei Mahlers Sechster immer gerne als „Special Gimmick“ herhalten muss, sagen wir hier bewusst nichts. Am Montag nochmals zu hören um 20 Uhr in der Tonhalle.