Düsseldorf Obdachlosigkeit: Von der Platte in die eigene Bude
Ralf hat jahrelang auf der Straße gelebt. Betreutes Wohnen kam für ihn nicht in Frage — zu viele Zwänge. Jetzt hat er eine eigene Wohnung.
Düsseldorf. Das Leben hat Ralf nicht nur einmal „einen mitgegeben“. Seine Ehe scheiterte, er verlor mehrmals seinen Job, wurde schließlich Zeuge eines Suizids. Ralf bekam psychische Probleme, versuchte den Schmerz mit Alkohol runterzuspülen. Das Leben wuchs ihm über den Kopf. Er brach aus, suchte Zuflucht auf der Straße. Dort gab es keine Zwänge — keine Vorsprechen beim Jobcenter, keine Mahnschreiben.
Jahrelang lebte Ralf „auf Platte“. „Und es war ’ne gute Platte“, sagt er und lächelt. Der 48-Jährige machte seine eigenen Regeln: Tagsüber schlief er, nachts sammelte er leere Flaschen, die am Morgen gegen volle und etwas zu essen eingetauscht wurden.
Unter einer abgelegenen Brücke in Heerdt richtete er sich gemeinsam mit seinem Kumpel ein Lager her. Übereinandergestapelte Matratzen, Isomatten und Schlafsäcke schützen vor der Kälte. Nur wenn es zu kalt wurde oder es Zeit für eine Wäsche war, besuchte Ralf eine Notschlafstelle. „Das war nichts für mich. Da ist man so verpflichtet. Teilt sich ein Zimmer mit sechs oder sieben Leuten, die man nicht kennt.“
Unter der Brücke, da waren Ralf und sein Kumpel ungestört. „Da mussten wir keine Angst haben, beklaut zu werden“, sagt Ralf. „Im Hofgarten zum Beispiel hätte ich nie geschlafen.“ Von zu vielen Kumpels hatte er Geschichten über Raub, Diebstahl und Schläge gehört. „Zuletzt ist ein anderer Kollege noch übelst zusammengeschlagen worden. Und seine Tasche hat man ihm geklaut“, sagt Ralf.
Mit seinem besten Kumpel habe es nie Stress gegeben. Auch nicht, wenn man zu viel getrunken habe. „Auf der Straße trinkt man immer. Das ist der einzige Zeitvertreib.“
Sein Kumpel wollte schließlich doch weg von der Straße. Er überzeugte Ralf, mit ihm einen Versuch bei Fifty-Fifty zu wagen. Beide fragten nach einem Job — und nach einer Wohnung. Die Hilfsorganisation besitzt seit Mitte des Jahres ein Haus in Gerresheim und sechs Wohnungen im Stadtgebiet verteilt. Dort finden obdachlose Menschen nicht nur eine Bleibe, sie können dort dauerhaft wohnen. Die einzige Auflage: die Erfüllung des Mietvertrags.
„Housing first“ heißt das Konzept, das sich Fifty-Fifty auf die Fahnen geschrieben hat und weiter vorantreiben will. Im Gegensatz zu anderen Programmen müssen sich Obdachlose dabei nicht durch verschiedene Ebenen der Unterbringungsformen für unabhängiges und dauerhaftes Wohnen „qualifizieren“, sondern können direkt in eine eigene Wohnung ziehen. „Bisher war es oft so, dass man wohnungslosen Menschen abgesprochen hat, wohnen zu können“, sagt Streetworker Oliver Ongaro.
In der Wohnform des betreuten Wohnens werde versucht, alle Probleme, die zur Wohnungslosigkeit geführt haben — Sucht, Schulden oder psychische Probleme — gleichzeitig zu bearbeiten. „Meist gibt es eine Art Probezeit: Innerhalb von 18 Monaten muss die Person beweisen, dass sie wohnfähig ist. Damit sind die meisten überfordert und landen am Ende wieder auf der Straße“, so Ongaro. Beim „Housing first“ bekommen die Menschen erst mal Wohnraum, und dann wird Hilfe seitens der Sozialarbeit angeboten. „Aber es bleibt ein Angebot. Jeder darf selbst entscheiden, ob er die Hilfe in Anspruch nimmt“, so Ongaro.
Es gehe um eine Begegnung auf Augenhöhe, darum, dem Menschen wieder das Gefühl zu vermitteln, er werde „für voll genommen“, um Eigenständigkeit und eine echte Integration in die Gesellschaft. „Natürlich hat das auch viel mit Vertrauen zu tun“, sagt Ongaro. Die Erfahrungen aus Wien und Barcelona, in denen das Konzept bereits etabliert ist, zeigen jedoch, dass die meisten Menschen nicht wieder auf der Straße landen.
Ralf und sein Kumpel haben im Oktober ihre Wohnung in Gerresheim bezogen. Ralf musste sich wieder beim Jobcenter melden, bezieht Sozialleistungen, die auch in die Miete fließen. „Da gab es auch schon wieder Probleme. Das Geld kam nicht pünktlich. Aber weil es ja an Fifty-Fifty geht, war das nicht so schlimm. Bei einem anderen Vermieter hätte es schon wieder Ärger gegeben“, sagt er.
Die Hilfsorganisation will ein weiteres Wohnhaus kaufen. „Wir stehen auch mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband in Kontakt, um das Konzept für andere Vereine zugänglich zu machen“, sagt Ongaro. Das größte Problem bei der Umsetzung des „Housing first“ sei aber „die fehlende Hardware“ — günstiger Wohnraum. „Da müssen wir auch die Politik in die Verantwortung nehmen. Die beste Sozialarbeit bringt nichts, wenn es keinen Wohnraum gibt, um die Leute langfristig von der Straße wegzubekommen“, sagt Ongaro.
Ralf will sich wieder einen Job besorgen. Und in der Wohnung alt werden.