Gil Bronners neue Ausstellung Philara lässt die Puppen tanzen
Düsseldorf · Eine Idee durchzieht Gil Bronners Ausstellungshaus: der Mensch und sein Charakter marionettengleich animiert und seziert.
Zehn Müllsäcke – abgestellt wie am Straßenrand. Darauf hocken fünf schwarze Raben. Sie führen Klage über das, was die Menschen einer Stadt bedrückt. „Ich mache mir Sorgen…“, hebt ihr Lamento an. Statt zu krächzen, tönt eine Stimme aus den kohlrabenschwarzen Vögeln. Sie bewegen dazu ihre Schnäbel. Es geht um Ängste, Krieg, Krankheit, den eigenen Körper, Einsamkeit und Liebeskummer. Je länger man lauscht, desto dringlicher werden die Stimmen.
„Archiv der Sorgen“ heißt diese in den Raum gebaute Arbeit des Duos Fort, das das Ergebnis einer einjährigen Forschungsarbeit in der Stadt Siegen ist. Zwei Künstlerinnen hatten 2022 vor Ort die Menschen anonym befragt, was sie bedrückt, und all dies zusammengetragen. Heute ist dieses unerhörte Archiv als Umfrage nur noch Erinnerung, doch in der Form mit einer Raben-Gang auf grauen Säcken gleichzeitig Herzstück der neuen Ausstellung bei Philara. Weil sie so eindringlich und direkt das Publikum anspricht. Und weil die Installation Ewigkeitswert hat: Jeden Tag könnte man das Geplapper der Raben austauschen, denn die Vögel sind nur Platzhalter.
Ein Platzhalter für Menschliches wie sicher 50 andere Figuren in dieser kuriosen Ausstellung: aus Stoff, Holz, Metall oder Murano-Glas. In einem dunklen Raum reitet Momo auf der Schildkröte Kassiopeia, Mephisto hängt mit dem Geist am selben Strang und links daneben Jim Knopfs Lokomotive. Ein Mobile aus Berühmtheiten, in schwarzes Licht getaucht, mit Rezitationen auf Englisch. Was hat sich Michael Endes Superstar Momo wohl mit Goethes Mephisto zu erzählen? Klar, dass das spannend ist.
An anderer Stelle ruht eine schlaksige blaue Puppe auf dem Boden, sie wirkt wie in die Ecke geworfen. Angeblich ist sie erschöpft, weil sie ihr Flugzeug verpasst hat und 800 Kilometer mit dem Bus nehmen musste, was sie 28 Stunden gekostet hat. In einem anderen Raum des farbig getönten Kontinuums steht ein Bäcker aufrecht am Tisch, beim Teigausrollen wippt er vor und zurück. Zwei Räume weiter sitzt Sissis Schwager am Schreibtisch und performt Queersein als Thema – offenbar war der Leidensdruck zu Kaisers Zeiten nicht geringer als heutzutage. Außer der Vielzahl an mechanisierten Puppen gibt es ein Video, in dem grell geschminkte Menschen eine Sittenkomödie aufführen.
An dieser kleinen Aufzählung sieht man schon, was derzeit los ist in Gil Bronners Privatmuseum, was bis zum nächsten Sommer im ganzen Haus präsentiert wird, Sammlung, Leihgaben und vor Ort entstandene Arbeiten, um im besten Sinne die Puppen tanzen zu lassen. Außerdem wurde in diese in die Seele blickende Konzeption das Düsseldorfer Marionettentheater einbezogen, dessen Leitung nicht nur Experten vor Ort stellt und die Puppen ausgeliehen hat, sondern auch am Eröffnungstag die Marionetten zu den Menschen brachte. Mensch und Marionette ist gar nicht so weit entfernt voneinander, schaut man sich beispielsweise gedrillte Soldaten oder wieselige Mittelbauemporkömmlinge an. Wie von fremden Mächten unsichtbar gezogen fühlen sich manche Zeitgenossen noch, wenn sie groß sind.
Am Rande versammeln die Kuratorinnen einige große Namen
Heinrich von Kleist sprach in seinem Text „Über das Marionettentheater“ von Marionetten als unbeschwerten Vehikeln. Diese stellen für die Künstler Spielaufforderungen dar, Anlass eigene Geschichten zu erzählen in voller Maske, perfekt verkleidet. Und so sind die Puppen geniale Partner zur Stressbewältigung, bieten Projektionsflächen, befördern das individuelle Konfliktlöseprogramm.
Wenn Kinder die Wahrheit nicht aussprechen, sondern nur ihrer Puppe erzählen, so ist für Erwachsene die Marionette immer noch ein köstliches Spiel rund um Wahrheit und Lüge, bei dem sämtliche Ventile geöffnet werden können. Statt Kasper und Krokodil, Hänneschen und Hexe geht die bildende Kunst dabei verschlüsseltere Wege, erfindet geheimnisvolle Bilder, Formen, Skulpturen – auch Schattenspiele, ein Klassiker, der in dieser Ausstellung eine große Rolle spielt.
Am Rande haben die Kuratorinnen noch ein paar große Namen versammelt wie die gerade verstorbene Rebecca Horn mit blauen Schmetterlingen und Hans-Peter Feldmann mit seinem Puppendrehteller. Eine kleine Zeichnung von Hedda Schattanick im Obergeschoss zeigt eine „Muskelhand“ und geradezu meisterhaft, wie einem die Angst aus dem Körper kriechen kann.
Nichts ist so frei wie das Spiel. Daher ist die Ausstellung geeignet, über die Mechanismen und Bilderkraft des Figurentheaters in Echtzeit auf das Welttheater zu schauen.