Brigitte Tietzel: „Hier muss etwas passieren“
Brigitte Tietzel verlässt das Textilmuseum. Lesen Sie hier das vollständige Interview mit der scheidenden Direktorin.
WZ: Frau Tietzel, Sie waren insgesamt rund 16 Jahre am Textilmuseum, davon zehn Jahre als Leiterin. Im Vergleich zu Ihrer ersten Amtszeit, die 1986 begann: Wo steht das Haus heute?
Brigitte Tietzel: Ich scheue mich fast davor, das zu sagen: Das Museum steht heute personell und finanziell deutlich schlechter da. Auch die Besucherzahlen sind zurückgegangen. Wir hatten einfach früher mehr von allem und konnten entsprechend besser arbeiten.
Doch auch die Situation in Krefeld hat sich verändert. Die Textilindustrie spielt heute keine so große Rolle mehr wie früher.
Tietzel: Das stimmt. Vor 20 Jahren kamen noch mehr Besucher, die in der Textilindustrie gearbeitet haben. Das fand ich immer sehr beeindruckend: Wenn man als Kunsthistorikerin eine Führung macht, weiß man normalerweise mehr als die Besucher. Damals jedoch habe ich sehr viel von ihnen gelernt, weil sie technisch oft viel orientierter waren als ich. Viele dieser Menschen kamen ins Museum, weil es ihnen am Herzen lag - das ist heute anders.
Was bedeutet das für Krefeld?
Tietzel: Das Interesse an der textilen Geschichte dieser Stadt verliert sich. Ich befürchte, dass mancher junge Mensch gar nicht mehr weiß, warum hier überhaupt ein Textilmuseum steht.
Gleichwohl nennt sich Krefeld stolz "Stadt wie Samt und Seide"?
Tietzel: Ich finde es verwunderlich, das zu behaupten und gleichzeitig dieses Museum so in den Hintergrund zu rücken. Die Leute, die den alten Slogan wieder aufgegriffen haben, haben dies getan, ohne die Zusammenhänge aufzuspüren. Sie sind nicht ein einziges Mal im Textilmuseum gewesen, um mit mir zu sprechen. Das war denen völlig schnurz. Dadurch verliert die Aussage meines Erachtens ihren Sinn.
Wie kann man das Museum wieder mehr in den Vordergrund stellen?
Tietzel: Man müsste viel mehr Werbung damit machen. Womit soll man sonst Touristen nach Krefeld locken? Die Burg Linn ist wunderbar, aber es gibt noch andere Schlösser in der Gegend, Theater und Zoos gibt es in vielen Städten. Das Textilmuseum ist etwas Besonderes, ein Alleinstellungsmerkmal.
Das klingt, als werde das Museum in ein Schattendasein gedrängt?
Tietzel: Wir sind mit diesem Problem ja nicht alleine. Ich denke, alle Kulturinstitute haben heute weniger Geld und weniger Personal. Uns als Krefelds alleiniges Stiefkind zu bezeichnen, wäre also ungerecht. Dennoch fühlen wir uns gerade in den vergangenen Jahren verstärkt von der Stadt vernachlässigt. Ich meine, das Interesse - auch von Seiten der Politik - hat nachgelassen.
Und der Bereich Sponsoring?
Tietzel: Wenn ich heute in Zeiten der Finanzkrise einen Sponsor suche, ist es fast unmöglich. Allerdings wird auch das schon seit Jahren schwieriger. Bayer hat mir 1992 für die Ausstellung "Sportswear" 50 000 Mark gegeben - das wäre heute unvorstellbar.
Man könnte angesichts dieser Entwicklung auch vermuten, das Museum sei ein Auslaufmodell.
Tietzel: Eine Gegenfrage: Ist Goethe ein Auslaufmodell? Wir haben hier ein Kulturgut, das eng mit der Geschichte und Tradition der Stadt verknüpft ist.
Was kann das Textilmuseum heute noch leisten?
Tietzel: Wir besitzen Textilien aus aller Welt. Sie verraten uns unendlich viel über die Zeit und die Gesellschaft, in der sie verwendet wurden. Aus dem, was wir hier haben, kann man viel über die Welt lernen. Wenn es in Krefeld einen Ort gibt, an der die Welt zu Gast ist, dann bei uns. Früher ist der Oberbürgermeister oft zu uns gekommen und hat seine Gäste aus Japan, China oder anderswo mitgebracht. Und immer konnten wir ihnen ein wertvolles Stück aus ihrer Heimat zeigen.
Welche Bedeutung hat das Haus für Krefeld?
Tietzel: Krefeld hat eine besondere Geschichte. Die Seidenweber haben die Stadt reich gemacht. Krefeld hatte um 1900 zusammen mit Chemnitz das höchste Steueraufkommen des ganzen Landes. Es waren weitsichtige Unternehmer, die 1880 die textile Vorbildersammlung in die Stadt geholt haben, aus der schließlich das Textilmuseum erwachsen ist. Sie waren stolz darauf. Und wir können es noch heute sein.
Wie sieht heute der typische Besucher des Textilmuseums aus?
Tietzel: Ganz unterschiedlich, weil die Bereiche und die Ausstellungen so unterschiedlich sind. Ob wir afrikanische oder chinesische Textilien, Quilts der Amish oder Mode zeigen: Das Publikum ist jedes Mal anders. Darüber hinaus gibt es in Krefeld eine regelrechte Fangemeinde, die immer kommt.
Auf Dauer scheint das nicht zu reichen. Wie könnte man dieses Museum wieder für einen größeren Kreis interessant machen?
Tietzel: Es gibt zwei Visionen. Trotz der finanziellen Rahmenbedingungen wäre es sicher möglich, ein Museum zu schaffen, das Teile seiner Sammlung dauerhaft zeigen kann, statt sie im Archiv zu verstauen. Daneben braucht man weiter wechselnde Ausstellungen, um das Interesse wach zu halten. Dafür ist ein kleiner Umbau nötig, der keine Unsummen kostet. Die andere Vision würde deutlich teurer: Ein größeres Museum mit ständigen Mode-Ausstellungen - das zieht immer.
Kann man die Erwartungen heutiger Besucher nicht auch ohne große Umbauten erfüllen?
Tietzel: Es geht nur bedingt um die Erwartungen der Besucher. Die ändern sich von Jahr zu Jahr. Ich halte wenig von Computern und Bildschirmen in den Räumen, Filme gehören ins Fernsehen. Besucher sollten nicht mit der Erwartung kommen, amüsiert zu werden. Sie sollen neugierig kommen und Fragen stellen.
Das mag mancher als überkommene Auffassung von Museumsarbeit sehen.
Tietzel: Damit kann ich leben. Es ist im Grunde nicht meine Aufgabe, Remmidemmi zu veranstalten. Das bringt dem Museum meines Erachtens nichts. Abgesehen davon haben wir kein Geld dafür.
Auch in Ihrer direkten Umgebung hat sich Einiges verändert. Die Infrastruktur in Linn gab zuletzt Anlass zur Sorge.
Tietzel: Als ich hierher kam, gab es noch zwei Metzger, zwei Bäcker, das Dorf hat noch funktioniert. Heute gibt es hier im Ort so gut wie nichts mehr. Man bekommt nach dem Museumsbesuch nicht einmal einen Kaffee.
Sie gehen im Oktober 2010 frühzeitig in den Ruhestand. Scheiden Sie mit Bitterkeit?
Tietzel: Es liegt nahe, das zu denken. Ich gehe nicht ganz frohen Herzens. Ich denke, hier müsste etwas getan werden. Ob ich diesen Weg noch weisen könnte, weiß ich nicht. Ich bin vielleicht durch meine eigene Geschichte auch nicht mehr ganz offen für neue Wege. Mein Nachfolger wird einer anderen Generation entstammen, andere Vorstellungen haben. Vielleicht schafft er etwas, das ich nicht mehr schaffen kann.
Es gab die Idee, ein "Kultur-General" für Burg Linn, Textilmuseum, Stadtarchiv und NS-Dokumentationsstelle könnte das leisten.
Tietzel: Das glaube ich nicht. Der müsste Archivar, Archäologe und Kunsthistoriker sein. Ein Mensch braucht die Liebe zur Sache, um etwas zu bewegen. Wir haben hier einen Schatz - und den gilt es zu bewahren.