Dokumentation „Krefelds Offenheit wird sich am Ende auszahlen“

Krefeld · Die Rede des Oberbürgermeisters Frank Meyer beim Festakt zum 650. Geburtstag der Stadt Krefeld im Wortlaut.

Krefelds Oberbürgermeister Frank Meyer (SPD) spricht am vergangenen Sonntag im Seidenweberhaus zum 650. Geburtstag der Stadt.

Foto: Bischof

(nach Anrede)

650 Jahre, sechseinhalb Jahrhunderte – eine solche Zeitspanne übersteigt bei weitem unser Lebensalter und im Grunde auch unsere Vorstellungskraft. (...) Worauf schauen wir, wenn wir Krefeld sehen?

Unsere Stadt mit ihren genau 235 689 Einwohnerinnen und Einwohnern hat nur noch wenig gemein mit dem Dörfchen Creyvelt, das am 1. Oktober 1373 von Kaiser Karl IV. die Stadtrechte zugesprochen bekam; sie hat zum Glück nichts gemein mit jenem Ort, der 1584 nach dem Truchsessischen Krieg völlig zerstört als Gerippe zurückblieb; sie trägt nur noch vereinzelte Spuren jener Textilstadt, in der im 19. Jahrhundert auf jeden Haushalt ein Webstuhl kam; sie sieht nur mancherorts noch aus wie jene Industriehochburg, die dank der verkehrsgünstigen Lage an Fluss, Straße und Schiene ab 1850 entstanden ist; sie ähnelt nur stellenweise der Stadt, die vor der verheerenden Bombennacht des Jahres 1943 existierte; und ja, selbst das Krefeld der 1960er- oder 1980er-Jahre ist heute bereits in Teilen verschwunden – der alte Wasserturm an der Gladbacher Straße, die Rhenania-Allee, die Königsburg, Horten und vielleicht bald auch der Kaufhof.

Das erinnert uns daran, dass Bewahren zwar wichtig ist, aber kein Selbstzweck: Bewahren ist nicht immer möglich und nicht immer sinnvoll – schöne Erinnerungen allein sind kein hinreichender Grund, am Bewährten festzuhalten. Denn das besondere Merkmal von Städten ist im Gegenteil ihre stetige Veränderung: In 650 Jahren gilt das unweigerlich, weil die Zeitenläufe über alles hinwegfegen – aber auch im kleineren Bild ist der Wandel unser fester Begleiter.

Wie muss es diese Stadt im Kern erschüttert haben, als während der Industrialisierung aus kleinen Handwerkerbutzen Großbetriebe wurden? Wie müssen die Kriege und die Angriffe auf jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger zwischen 1933 und 1945 Krefeld im Innersten zerrissen haben? Wie lief eigentlich der politisch-gesellschaftliche Diskurs in dieser Stadt ab, bevor es Handy und soziale Medien gab?

Aktuell spüren wir die Wucht der Veränderung besonders stark. (...) Doch Veränderung ist immer auch eine Chance, dann nämlich, wenn wir sie gestalten können: In 650 Jahren war die Lage der Menschen in Krefeld oft verzweifelter, als wir uns heute vorzustellen vermögen – und doch stehen wir jetzt hier und begehen feierlich den Geburtstag unserer Stadt.

Was für ein schöner Anlass! Was für ein wunderbarer Tag, um gemeinsam mit vielen Freunden und Partnern aus Nah und Fern unsere Heimatstadt zu feiern! Egal ob Hülser, Traarer, Fischelner oder Oppumer – heute sind wir alle Krefeld!

Ganz ehrlich: Wenn es soweit kommt, dass ein waschechter Uerdinger die Ansprache zum 650. Geburtstag Krefelds hält, dann ist im Grunde alles möglich.

Lassen Sie uns noch einen Moment beim Thema Veränderung bleiben: Das Jubiläumsjahr, wie es bisher verlaufen ist, gibt uns Anhaltspunkte dafür, wie unsere Stadt sich künftig zum Positiven verändern kann und bereits verändert hat. Vor zwei Wochen sind tausende von Menschen einen Sonntag lang über die Wälle spaziert und geradelt, haben an langen Tafeln aus Biertischen zusammen gegessen, Kultur und Gemeinschaft erlebt, wo sonst Autos parken; das Rheinufer – noch vor wenigen Jahren eine ungenutzte Brache – ist zum festen Treffpunkt für alle geworden, die Sport, Kino oder einfach ein Feierabendbier am Fluss genießen möchten; die Innenstadt, mehr als einmal von Pessimisten totgesagt, platzte bei „Kultur findet Stadt“, der „Laufmasche“, den Feierabendmärkten und anderen Events aus allen Nähten; die Kulturszene begeisterte mit neuen Formaten wie der 24-Stunden-Lesenacht, der Ausstellung mit Krefelder Kunst und Design oder dem gemeinsamen Konzert unserer Sinfoniker mit der lokalen Bandszene; Vereine und Initiativen beleben mit zahlreichen kleinen und großen Veranstaltungen ihr Quartier und ihre Nachbarschaft. Kurzum: Der Funke der Veränderung hat in diesem Jahr an vielen Stellen gezündet – in symbolischer Hinsicht auch an der Flamme unseres Krefelder Heißluftballons, der die Botschaft der Seidenstadt in die Lüfte und durch die Welt trägt.

Das Jubiläum erlaubt uns, weit zurückzublicken und gerade dadurch für Gegenwart und Zukunft eine wichtige Erkenntnis zu gewinnen: Ja, wir wollen das Krefelder Erbe bewahren, wo es geht, aber dabei nicht in bedingungslose Nostalgie verfallen; ja, wir wollen stolz auf Exponate aus 650 Jahren Geschichte hinweisen, aber dabei nicht die ganze Stadt in ein Museum verwandeln; wir wollen nicht bloße Konservatoren sein, sondern Gestalter, die das Gestern nutzen, um das Morgen für Krefeld zu formen.

Man muss ehrlich genug sein, sich einzugestehen, dass die viel beschworene goldene Vergangenheit der Samt- und Seidenstadt verblasst ist: Aber wir können ihr Fundament nutzen, um die Stadtgeschichte auf unsere Weise fortzuschreiben. Worin liegt dieses Fundament? Was ist trotz aller Veränderung die unabänderliche Krefelder Identität? Worauf also schauen wir, wenn wir Krefeld sehen? Die Antwort auf diese Frage ist zum einen sichtbar in Steinen und Mauern: Das reiche Erbe der Seidenbarone ist vielerorts geblieben, und wir zeigen diese Orte gern, wenn wir Besuch bekommen. Doch ebenso wichtig wie die Steine scheint mir die innere Haltung, die wir meinen, wenn wir „Seidenstadt“ sagen: Gemeint ist damit altes Handwerk, harte Arbeit, aber auch Kreativität.

Textilindustrie heißt Farben, Formen, Stoffe – das ist ein anderes Arbeitsfeld als Schrauben, Röhren, oder Bleche: Textilien, vor allem die, die wir am Körper tragen, sind immer auch Ausdruck unseres Selbstbildes, unserer Ich-Wahrnehmung, unserer Identität. Und deshalb macht es etwas mit einer Stadt, wenn ihr wichtigstes Wirtschaftsgut über Jahrhunderte edle Stoffe und Textilien waren.

Der Sinn für das Schöne und die Suche nach neuen Impulsen gehören zur Krefelder DNA: Die Textilunternehmen haben immer kreative Menschen angezogen, etwa zur Zeit der Bauhaus-Bewegung, als führende junge Künstler in unsere Stadt geholt wurden, um ihre Innovationskraft für die eigenen Produkte zu nutzen; Jahrzehnte später hat Paul Wember als Direktor der Kunstmuseen der internationalen Avantgarde in Krefeld eine Bühne geboten; an der Werkkunstschule haben Generationen von Studierenden ihr Handwerk gelernt, darunter viele große Namen. Wenn wir, wie zuletzt, 100 Jahre Bauhaus und 100 Jahre Beuys feiern, dann wird uns in Krefeld neu bewusst, welche Schätze wir hier hüten, als Stadt der Kunst, der Architektur und des Designs.

Damit einher geht eine weitere Stärke, die aus meiner Sicht die größte von allen ist: Offenheit gegenüber der Welt und gegenüber Menschen jeder Kultur und jeden Glaubens. In unserem neuen Imagefilm hat dieses uralte Krefelder Selbstverständnis einer toleranten Stadt eine wunderbare moderne Entsprechung gefunden: Wir sind vielleicht nicht für jeden was, aber jeder ist was für uns.

Ein starker Satz, ein hoher Anspruch – aber ich glaube tatsächlich, dass wir ihm hier häufig gerecht werden. Wir sind eine internationale Stadt, nicht nur, was die Zusammensetzung der eigenen Bevölkerung betrifft, sondern auch durch die engen Bindungen an unsere Partnerstädte, die hier heute zahlreich vertreten sind (...). In einer Konstellation, die bundesweit einmalig sein dürfte, haben Venlo und Krefeld vor einigen Wochen gemeinsam eine Partnerschaft mit der ukrainischen Stadt Kropyvnytskyi abgeschlossen – ein direktes Zeichen der Solidarität zwischen drei Städten in Europa und ein gemeinsames Signal, das wir in diesem furchtbaren Krieg nicht nur zum Zuschauen verdammt sind.

Ich bin überzeugt, dass sich diese Offenheit, für die Krefeld steht, am Ende auszahlt, nicht nur durch wertvolle menschliche Kontakte, sondern auch, weil sie Identifikation entzündet. Nur ein Beispiel: Ich finde es bemerkenswert, dass eine Initiative von Migrantinnen und Migranten als eigenen Beitrag zum Stadtjubiläum den Entschluss gefasst hat, die Historie Krefelder Gastarbeiter und anderer Einwanderer in einem Dokumentarfilm festzuhalten – so etwas macht man nur, wenn man sich seiner Krefelder Heimat verbunden fühlt. Offenheit bedeutet in Krefeld nicht nur Internationalität, sondern auch: Hilfsbereitschaft gegenüber Schwachen (...).

Ich bin stolz, dass ich in einer Stadt lebe, die nicht hinsieht und dann wieder wegsieht, sondern die hilft und handelt, wenn es darauf ankommt – dank eines ehrenamtlichen Engagements, das so breit und vielgestaltig ist, dass es bisher noch niemand geschafft hat, die Aktiven in den unterschiedlichen Bereichen überhaupt zu zählen. Ich bin stolz, dass ich in einer Stadt lebe, die drei junge Sportlerinnen und Sportler mit geistiger Behinderung, nämlich Anna Mannheims, Clemens Schmidt und Nils Leffers, nach den „Special Olympics“ in Berlin in diesem Sommer genau so herzlich und begeistert empfängt wie zuvor die Olympiasiegerin Aline Focken oder die Hockey-Weltmeister Timur Oruz und Niklas Wellen.

Ich bin stolz, dass ich in einer Stadt lebe, die Heimat nicht als Enge empfindet, sondern als Weite, nicht als Ausgrenzung, sondern als Einladung: Ich blicke in Krefeld täglich in die Gesichter von Menschen, die zwar nicht hier geboren sind, aber in unserer Stadt längst ihr Zuhause gefunden haben – ob sie nun aus Leverkusen stammen oder aus Aleppo.

Krefeld ist Heimat für viele, von Bockum bis zum Südbezirk, von Verberg bis Schicksbaum; Krefeld ist Linner Dorfgeselligkeit und das bunte Treiben am Südwall, Idyll und Urbanität; Krefeld ist Großmarkt und Stadtwald, Yayla-Arena und Elfrather See, Samtweberei und Hülser Berg, Grotenburg und Hospizlauf, Niepkuhlen und Zoo, Kufa und Kaiser-Wilhelm-Museum, Südbahnhof und Nordbahnhof, Smart City und Schluff, Burg Linn und Blauer Engel.

Krefeld kann improvisieren, als sei das Leben ein Jazzkonzert; Krefeld kann feiern, wenn andere Städte längst schlafen; Krefeld dröhnt und rattert wie ein alter Webstuhl, und doch hört man hier im allgegenwärtigen Grün Bienen summen und Vögel singen; Krefeld kann politisch streiten, ohne dadurch menschlich gleich alle Brücken abzubrechen; Krefeld meckert lustvoll über die eigene Stadt, würde aber nie woanders hinziehen; Krefeld fühlt sich gernegroß per Geburtsrecht und viel zu klein, wenn es verschämt nach Köln oder Düsseldorf blickt; Krefeld tut sich schwer mit den eigenen Stärken, ist aber stolz wie Bolle, wenn andere diese Stärken beim Namen nennen; Krefeld hadert und zaudert gern, doch Krefeld hält meistens zusammen, wenn‘s drauf ankommt.

Krefeld ist echt und ein bisschen eigensinnig. Krefeld ist rheinisch fröhlich und trotzdem bodenständig wie der ländliche Niederrhein. Krefeld hat Humor. Und Krefeld macht es Menschen leicht, anzukommen und zu bleiben. Krefeld ist der gute alte Dreiklang, unnachahmlich formuliert von Fritz Huhnen: Es gibt Gute, Böse und Krefelder – was auch immer das heißen soll (...).

Ich habe mich in diesem Jahr, in dem der Blick zurück so naheliegt, manchmal gefragt, wie mein Opa, wenn er noch lebte, auf die Ereignisse des Jahres 2023 schauen würde. Er wurde 1908 geboren, hat als Kind den Ersten Weltkrieg erlebt, lernte, wie es sich für Krefeld gehört, den Berufs des Samtwebers, kam schwer kriegsversehrt aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause in seine zerbombte Heimatstadt, erlebte den Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder, die Wiedervereinigung, zuvor auch die 600-Jahr-Feier Krefelds und die Philadelphiade, die im Jahr 1983 an genau diesem Ort stattfand.

2002 ist mein Großvater gestorben und hatte in seinem Leben so viel Veränderung, im Guten wie im Schlechten, gesehen, dass es für mehrere Leben gereicht hätte. Würde er heute auf Krefeld blicken, würde er vielleicht sagen: Mensch, hier hat sich alles geändert – aber trotzdem ist etwas geblieben.

Nicht alles, aber genau dieses Etwas, müssen wir im Wirbel der Veränderung bewahren, denn es kann uns in jedem Umbruch die Richtschnur sein: Wie Krefeld in 100 oder 200 Jahren aussieht, kann niemand mit Sicherheit sagen, doch ich hoffe sehr, es wird dann immer noch unser Krefeld und das Krefeld meines Opas sein – der Ort, den auch künftige Generationen aus voller Überzeugung Heimat nennen.