Porträt: Ein Mann für alle Nöte

Jürgen Schramm, seit 13 Jahren Leiter der Telefonseelsorge, geht in den Ruhestand. Im Gespräch mit der WZ blickt er auf bewegte Jahre und bewegende Ereignisse zurück.

Krefeld. Er hatte 23 Jahre lang ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Krefelder. Er hat in unzähligen Telefonaten nach einer Lösung der Probleme seiner anonymen Anrufer gesucht. Nun zieht Jürgen Schramm einen Schlussstrich. Am Freitag, 26. Januar, einen Tag nach seinem 63. Geburtstag, wird der langjährige Leiter der Krefelder Telefonseelsorge im Rahmen eines Gottesdienstes in der Friedenskirche (Beginn: 18 Uhr) in den Ruhestand verabschiedet.

Jürgen Schramm, Telefon-Seelsorger

Heute sitzt Schramm zurückgelehnt in einem Sessel. Er trägt ein grünes Sweatshirt, das graue Sakko hat er abgelegt. Wenn er über seinen nahenden Abschied spricht, wirkt er ganz und gar nicht traurig: "Es ist ein guter Zeitpunkt um aufzuhören - beruflich wie privat", sagt er. Denn einerseits ist die Telefonseelsorge gerade erst umgezogen. Andererseits wird dem Psychologen wohl auch im Ruhestand nicht langweilig. Außerhalb Krefelds will er als Berater tätig sein. Und in seiner Heimatstadt unterstützt er seine Tochter Stefanie - ebenfalls Psychologin - bei der Arbeit in ihrem Institut "intakkt".

Dass Stefanie einmal in die Fußstapfen des Vaters treten sollte, war beinahe unvermeidbar. "Ich habe sie schon zur Uni mitgenommen, als sie drei war." Was nicht daran liegt, dass Jürgen Schramm ein besonders junger Vater war - vielmehr war er ein vergleichsweise alter Student. "Ich habe erst mit 30 angefangen, Psychologie zu studieren. Im ersten Leben war ich Verwaltungsbeamter." Doch als Schramm auf Lebenszeit verbeamtet werden sollte, bekam er kalte Füße. "Die Worte ’auf Lebenszeit’ waren irgendwie zu viel für mich."

Mit dem Diplom in der Tasche landete er 36-jährig bei der Telefonseelsorge. "Dort hat mich die Unmittelbarkeit gereizt. Die Hemmschwelle der Leute ist am Telefon sehr niedrig. Und es ist eine spannende Tätigkeit. Man kann sich auf kein Gespräch vorbereiten." Wenn das Telefon klingelt, dann könne am anderen Ende der Leitung ein Teenager warten, der Hilfe beim Kotelett-Braten braucht - oder ein verzweifelter Anrufer, der sich das Leben nehmen will. "Besonders bewegend war der Anruf einer Frau, die sich bereits eine tödliche Dosis gegeben hatte. Sie sagte: ,Ich will nicht, dass Sie mir helfen, ich will, dass Sie mich in den Tod begleiten.’" Schramm konnte nichts weiter tun, als dem Wunsch der Sterbenden zu entsprechen.

"Man hat oft den Impuls, dass man mehr tun möchte." Da die Möglichkeiten am Telefon begrenzt sind, engagierte sich Schramm in der Prävention. Er schrieb Leitfäden für den Umgang mit akuter Suizidalität, schulte Polizisten und Feuerwehrleute, gründete das Krefelder Jugendtelefon mit und betätigte sich bei der WDR-Talk-Sendung "Domian" im Hintergrund als Psychologe.

Wenn man - etwa als Notfallseelsorger nach dem Birgen-Air-Absturz 1996 - mit geballtem Leid konfrontiert wird, dann hinterlässt dies auch beim Profi Spuren. "Supervision und die Gespräche im Team helfen - aber dramatische Schicksale kann man nicht an der Bürotüre hinter sich lassen."

Das habe anfangs zu Konflikten geführt: "Zuhause war ja nichts so schlimm, wie in der Telefonseelsorge." Schramm musste lernen, die Probleme seiner Familie ernst zu nehmen und den Blick in der Freizeit auf die schönen Dinge des Lebens zu richten. Dafür hat er nun jede Menge Zeit: Schramm will viel verreisen, lesen oder auch einfach mal nichts tun. Und wenn ihm wirklich einmal langweilig werden sollte, steht einem Fachgespräch mit Tochter Stefanie nichts im Wege.