Als die Turmuhr Gruiten veränderte
Dank einer Turmuhr wussten die Einwohner von Gruiten mindestens schon seit dem 17. Jahrhundert, welche Stunde ihnen geschlagen hat. Womöglich gab es die Uhr am Turm aber auch schon deutlich früher.
Haan. Aufgestanden wurde morgens mit den Hühnern. Und abends zog man sich irgendwann einfach die Bettdecke über den Kopf. Zu welcher Tages- und Nachtstunde das genau war, wollte vermutlich keiner so genau wissen. Niemand kam zu spät, es herrschte keine Eile: Welch ein Idyll ohne Hektik und Stress.
Und dann war plötzlich alles anders. Von einem auf den anderen Tag wurden die Gruitener von der Zeit beherrscht. Wann sie damit begonnen hat, sich in den Alltag der Menschen einzugraben, weiß niemand so ganz genau. Bislang ging man davon aus, dass es im Jahre 1735 gewesen sein muss. „Damals schenkte die Äbtissin von Graefrath der Gemeinde eine Turmuhr für die Nikolauskirche“, berichtet Lothar Weller vom Bergischen Geschichtsverein aus der Chronik des Ortsteils.
Allerdings sei das Uhrwerk zu schwach gewesen und die Gruitener ließen den Hut herumgehen, um den Mangel zu beheben. Seither galt diese Gemeinschaftsaktion von Katholiken und Protestanten als Geburtsstunde der Zeitmessung in Gruiten. Mittlerweile allerdings ist der Hobbyhistoriker schlauer und weiß, dass das so nicht gewesen sein kann.
Seit vor drei Jahren auf dem Dachboden eines alten Gruitener Hauses historische Aufzeichnungen entdeckt wurden, verbringt Lothar Weller so manche Stunde damit, sich mühsam in die altdeutsche Schrift einzulesen. Als er dort schließlich auf eine — auf das Jahr 1661 datierte — Notiz stieß, die vom Abbau eines Uhrwerks berichtete, war klar: Die Gruitener wussten offenbar schon viel früher als bislang angenommen, was die Stunde geschlagen hatte. Und das darf durchaus wörtlich genommen werden, denn eine Schlaguhr hält Lothar Weller für die wahrscheinlichste aller möglichen Varianten.
Lothar Weller, Bergischer Geschichtsverein
„Es gibt am Turm keinen Hinweis darauf, dass dort irgendwann mal eine Turmuhr angebracht gewesen sein könnte“, berichtet Lothar Weller von seinen Recherchen. Allzu viel Sinn hätte eine Uhr mit Zeiger wohl auch nicht gehabt. Schließlich wohnten nur wenige Gruitener in der Nachbarschaft der Nikolauskirche, während der Stundenschlag auch in den umliegenden Höfen zu hören gewesen sein dürfte.
Abgebaut wurde das alte Uhrwerk — von dem man nicht weiß, wann und wie es in den Turm gelangte — von Meister Gerhard. Der gute Mann bekam dafür 20 Albus und zwei Krüge Bier. Dass er Letztere noch während seiner Arbeitszeit in sich hinein gekippt haben könnte, hält Lothar Weller durchaus für möglich: „Das war damals kein Starkbier. Die Ehefrau von Luther hat es hektoliterweise getrunken“, bemüht er historische Aufzeichnungen. Das ausgebaute Uhrwerk wurde damals übrigens über dem Altar gelagert. Und wäre das Kirchenschiff nicht abgerissen worden, hätte man es dort womöglich noch finden können.
Nun jedenfalls ist klar, dass der Zeitstress für die Gruitener schon im 17. Jahrhundert begonnen haben dürfte. Womöglich kehrte fortan auch Langeweile in die gute Stube ein, weil man auf etwas wartete und die Zeit einfach nicht vergehen wollte.
So ganz genau hat man die Sache mit der Zeit im heutigen Ortsteils von Haan aber wohl dennoch nicht genommen. Glaubt man Lothar Weller vom Bergischen Geschichtsverein, so galt noch 200 Jahre nach dem ersten Stundenschlag der Gruitener Turmuhr: „Es ist 12 Uhr mittags, wenn der 12 Uhr-Zug durchfährt.“ Und der dürfte in all den vielen Jahren wohl nicht immer pünktlich gewesen sein.