Haan: „Ich hatte nur noch Angst“

Vor 40 Jahren scheiterte der Fluchtversuch von Christina Rustemi. Sie wurde verhaftet.

Haan. Wie viel Leid passt eigentlich in ein Leben? Das hat sich Christina Rustemi immer wieder gefragt. Vor allem in den Tagen um den 3. Oktober kommen die Erinnerungen zurück.

Während überall der Deutschen Einheit gedacht wird, bekommt Christina Rustemi quälende Alpträume. "Das ist jedes Jahr das Gleiche. Ich werde nachts wach und glaube, ich bin wieder im Knast", sagt die 56-Jährige.

In diesem Jahr war es so schlimm, dass sie zum Arzt gegangen ist. Der hat sie zum Psychologen geschickt. Dort spricht sie nun seit mehr als 40 Jahren zum ersten Mal über ihr Trauma.

Sie macht sich eine Zigarette an, bevor sie überhaupt erzählen kann. Versuchte Republikflucht aus der DDR, Stasigefängnis, Frauenzuchthaus. Danach im Heim, weil die Mutter ihre Tochter nicht mehr sehen wollte.

Zwei Jahre vor dem Fall der Mauer über die ungarische Botschaft geflohen, lebt Christina Rustemi heute in Haan. Was sie erzählt, treibt jedem, der nicht hartgesotten ist, die Tränen in die Augen. Sie zeigt ihre Arme, die von Narben übersäht sind. So als müsste sie beweisen, dass ihre Geschichte nicht erfunden ist.

Sie weiß nicht mehr, wie oft sie versucht hat, sich im Zuchthaus in Hoheneck das Leben zu nehmen. Zwei Jahre war sie dort eingesperrt. Nach ihrer gescheiterten Flucht in den Westen hatte sie die Stasi verhört und mit Schlafentzug gefoltert.

"Die Wärter haben mir damals gesagt, ich hätte besser Mörderin werden sollen. Dann hätte ich auch auf den Hof gehen dürfen." Die Schreie der anderen Frauen hört sie bis heute.

Vergewaltigungen und Schläge durch Mithäftlinge gehörten zum Alltag. Christina Rustemi wurde mehrmals in Handschellen unter die kalte Dusche gehangen und von Wärtern mit Gummiknüppeln geschlagen. Warum? "Weil ich mich weigerte, für diesen Staat im Gefängnis zu arbeiten."

Dass sie damals als knapp 14-Jährige überhaupt auf die Idee kam, in den Westen zu fliehen, ist eine nicht weniger traurige und erschütternde Geschichte. "Meine Mutter hat mir damals gesagt, dass mein Vater Heinz heißt und im Westen lebt", erzählt sie.

Sie wollte ihn suchen und entschloss sich, mit zwei befreundeten Brüdern im Harz über die Grenze zu fliehen. Mehrere Tage waren sie von ihrer Heimatstadt Cottbus aus zu Fuß zur Grenze unterwegs. Dort angekommen, rannten sie einfach los.

Christina Rustemi blieb mit ihrer Hose am Stacheldrahtzaun hängen. Einer der Brüder hatte es schon durch den verminten Grenzstreifen geschafft, der andere wollte ihr helfen. Dann Schüsse. Später erfuhr sie, dass die Grenzer Warnschüsse abgegeben hatten - der Bekannte wanderte in Haft. Was aus ihm wurde, weiß sie nicht.

"Hubert und ich wurden verhaftet und kamen erst in Weimar in Staatssicherheitsgefängnis. Dort wurde ich immer wieder nachts geweckt und musste Fragen beantworten. Ich hatte nur noch Angst", erinnert sich Rustemi.

Nach der Gerichtsverhandlung kam sie für zweieinhalb Jahre ins Zuchthaus Hoheneck. Danach wurde sie ins Heim geschickt, weil ihre Mutter sie nicht mehr sehen wollte. "Wir haben seither nie mehr Kontakt gehabt", sagt sie. Die Mutter hatte es ihr verübelt, dass sie sich auf und davon machen wollte.

Es folgten Jahre in der ehemaligen DDR, in denen nichts mehr ging. Christina Rustemi durfte ihren Wohnort nicht verlassen, verdingte sich als Näherin. Wenn Offizielle im Ort waren, stand die Stasi vor der Tür. "Ich durfte nicht mal einkaufen."

Zwei Monate vor dem Fall der Mauer floh sie 1989 schließlich in die ungarische Botschaft. Ihren Mann hatte sie nicht eingeweiht, er kam nach dem Mauerfall nach. Ihren Hund hatte sie bei Freunden untergebracht, auch ihn hat sie, nachdem die Grenzen offen waren, zu sich geholt.

Und dennoch sagt sie: "Mein Leben hatte nach der Zeit im Zuchthaus keinen Anfang und kein Ende. Ich hatte keine Chance mehr." Damit meint sie vor allem die Wunden der Seele, die bis heute nicht verheilt sind.

Ihren Vater hat Christina Rustemi übrigens noch getroffen. Als sie vor ein paar Jahren für ihre Hochzeit - von ihrem ersten Mann hatte sie sich mittlerweile scheiden lassen - eine Abstammungsurkunde brauchte, fand sie darauf seinen Namen. Sie rief bei der Auskunft an und ließ sich eine Liste von allen Kunden mit diesem Namen geben.

Es waren 130. "Beim 30. Versuch war schließlich die Frau meines Vaters am Telefon. "Er hat bitterlich geweint, als ich ihm meine Geschichte erzählt habe", erinnert sich Christina Rustemi an das erste Treffen. Danach hat sie ihren Vater noch zweimal besucht, bevor er schließlich starb.