Das Grundgesetz ist 75 Jahre alt geworden Als der Rat „Die Sünderin“ verbieten wollte – und das Grundgesetz die Freiheit der Kunst schützte

Kreis Viersen · Vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz verkündet. Zum besonderen Datum zeigt das Kreisarchiv bis Ende August eine Ausstellung mit Fotos und Dokumenten.

Sie haben die Ausstellung „75 Jahre Grundgesetz“ eröffnet (von links): Archiv-Mitarbeiter Marcus Ewers, stellvertretender Archivleiter Matthias Herm, Kreisdirektor Ingo Schabrich und Archivleiter Michael Habersack.

Sie haben die Ausstellung „75 Jahre Grundgesetz“ eröffnet (von links): Archiv-Mitarbeiter Marcus Ewers, stellvertretender Archivleiter Matthias Herm, Kreisdirektor Ingo Schabrich und Archivleiter Michael Habersack.

Foto: Heribert Brinkmann

Heute kaum vorstellbar: Im Jahr 1951 beschloss der Viersener Stadtrat einstimmig eine Resolution, die dazu aufforderte, den Film „Die Sünderin“ in Viersen nicht aufzuführen. Aber im Unterschied zur NS-Zeit konnte es nicht mehr verboten werden, den Film zu zeigen. „Die Sünderin“ von Willi Forst sorgt nicht nur wegen einer kurzen Nacktszene von Hildegard Knef als Aktmodell eines Malers für Aufregung, für langanhaltende Diskussionen vor allem in kirchlichen Kreisen sorgten die Themen Prostitution und Sterbehilfe. Das Filmplakat in der Ausstellung im Kreisarchiv unterstreicht einmal wieder, dass gesellschaftliche Konventionen oft wirkungsvoller sind als reglementierende Gesetze.

Am Donnerstag stellte das Kreisarchiv seine Ausstellung „75 Jahre Grundgesetz“ in der Vorhalle vor. Sie stellt die Grundrechte in historische Bezüge und zeigt, wie weitreichend die Bedeutung des Grundgesetzes für die Bürgerinnen und Bürger ist und wie wenig selbstverständlich die von ihm garantierten Rechte in der Vergangenheit gewesen sind.

Für die Ausstellung hat sich das Archiv, so Leiter Michael Habersack, auf drei der zwölf essenziellen Grundrechte konzentriert: die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2), die Meinungsfreiheit (Art. 5) und die Freiheit der Berufswahl (Art. 12).

Vier Jahre nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht wird am 23. Mai 1949 ein Grundgesetz verkündet. Es war vom Parlamentarischen Rat der Länder als ein Provisorium gedacht und nicht Verfassung, sondern Grundgesetz genannt. Auch ließ man damals das Volk nicht darüber abstimmen. Das Grundgesetz orientierte sich an der Weimarer Verfassung von 1919 und der Paulskirchenverfassung von 1849.

Aber erstmals konnte der Bürger seine Grundrechte beim Staat einklagen. Dafür wurde das Bundesverfassungsgericht geschaffen. Insgesamt bildet das Grundgesetz einen Kontrapunkt zu einer sehr unfreien Gesellschaft unter dem NS-Regime. Es garantiert auch die körperliche Unversehrtheit. Im Vergleich zu China, Russland und anderen totalitären Ländern nannte Archivleiter Michael Habersack das Grundgesetz „einen Schatz für die deutsche Gesellschaft“.

In der Vorbereitung dieser Ausstellung interessierte die Archivare vor allem, wie das Grundgesetz damals aufgenommen wurde.

Der Erste Weltkrieg führte
zu einem Epochenbruch

In der Viersener Ausgabe der Rheinischen Post erschien 1949 eine vierseitige Sonderbeilage mit dem vollen Wortlaut des Grundgesetzes. In den Quellen des Kreisarchivs wurde Dokumente für die Zeit davor und danach gesucht.

Mitarbeiter Marcus Ewers kümmerte sich um die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Im 19. Jahrhundert prägte Konformität das gesellschaftliche Miteinander. Erst der Erste Weltkrieg führte zu einem Epochenbruch. Die bisherigen Autoritäten wie Kaiser, Kirche, Militär wurden in Frage gestellt.

Es folgten die wilden Zwanziger Jahre, in denen in Kunst, Musik, Mode und Lebensart eine neue Freiheit ausgelebt wurde. „Flapper“ wurden junge Frauen genannt, die mit Bubikopf und kurzen Röcken ein neues Selbstverständnis an den Tag legten. Nach 1933 verdrängte der NS-Staat solche Individualität mit Anpassung in der Volksgemeinschaft. Doch die neue Freiheit hatte es auch nach 1945 nicht leicht: Der kulturbegeisterte Stadtdirekor Carl Schaub begrüßte noch 1959, dass in Viersen „der Rock’n Rollmystizismus schwach entwickelt“ sei. Und der „Monte Quasilino“ in der Innenstadt, wo sich langhaarige Schüler vom Humanistischen Gymnasium in den Pausen in den 70er-Jahren trafen, war den Geschäftsleuten ein Dorn im Auge.

Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Vor 1945 war eine andere Meinung gefährlich: Im Juli 1933 kam es am Humanistischen Gymnasium in Viersen zu einer scharfen polizeilichen Untersuchung, weil einige Schüler bei einem HJ-Aufmarsch keinen deutschen Gruß zeigten. Noch in den 60er-Jahren warb die VHS Lobberich für eine Diskussion mit Studenten: „Seien Sie kein Meinungsmuffel“.