Eigentlich hätte es dieses Buch gar nicht gegeben, und eigentlich wäre sein Autor auch niemals zu einer Lesung nach Kempen gekommen. Das Buch heißt „Ein Hof und elf Geschwister“, und geschrieben hat es Ewald Frie. Der Corona-Pandemie ist sein Entstehen geschuldet, denn – und nun kommt ein drittes „eigentlich“ – eigentlich stand auf der To-do-Liste des Professors für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen eine Forschungsreise für die Vorbereitung eines Buches über die Geschichte des Pazifik. Das vereitelten die Corona-Maßnahmen. Stattdessen kehrte Frie thematisch zu seinen Wurzeln im Münsterland zurück und befasste sich mit dem „stillen Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland“, wie es im Titel des Buches weiter heißt.
Warum sich der Autor trotz knapp bemessener Zeit nach Kempen aufgemacht hatte, um über sein Buch zu sprechen, liegt an seinem älteren Bruder. Der lebt in Kempen, und das gab den Ausschlag, von Tübingen an den Niederrhein zu kommen. Ein Glück für die rund 80 Besucherinnen und Besucher der Lesung im Franziskanerkloster in Kempen, die interessiert zuhörten und von denen man viele gemurmelte Zustimmungen zum Gehörten hörte. Denn das, was Frie ausgehend von der Geschichte seiner Familie im Münsterland erzählt, ist auf zahlreiche Familiengeschichten auch am Niederrhein übertragbar – wie sich auch an der anschließenden regen Diskussion mit dem Autor feststellen ließ.
Die Familie Frie hat ihren Ursprung auf einem Bauernhof in Nottuln im Münsterland, elf Kinder wurden zwischen 1944 und 1969 dort geboren. Die Brüder und Schwestern leben heute zwischen der Ostsee und Tübingen, zwischen dem Niederrhein und Osnabrück. Ewald Frie bat seine zehn Geschwister im Vorfeld des Buchprojektes, eine Gedankenreise durch das Elternhaus zu machen, hier und da anzuhalten und sich zu fragen: Was war da los, was ist hier passiert? Frie sammelte die entstandenen Geschichten, er besuchte jede Schwester und jeden Bruder und führte ein ausführliches Interview, es ging um Erinnerungen an ein politisches Ereignis oder ein großes Gefühl.
Das war die eine große Basis für sein Buch. Andere waren agrarsoziologische Bücher und das „Landwirtschaftliche Wochenblatt für Westfalen“, das, wenn man die Ausgaben chronologisch über mehrere Jahrzehnte liest, eine reiche Quelle für Informationen über gesellschaftliche Veränderungen im bäuerlichen Leben, aber auch in Erziehung, Haushalt und der Rolle der Frau ist.
Auch ein Blick in die Geschichte der Bundesrepublik
Anhand der Familiengeschichte zeichnet Frie die Geschichte der Bundesrepublik nach: Den Wandel der Bauerngesellschaft, der sich verändernde Einfluss des Katholizismus, das der Zeit angepasste Freizeit- und Arbeitsverhalten. Frie beschreibt die klare Aufgabenverteilung von Jungen und Mädchen auf dem Feld, im Stall, zu Hause. Er beschreibt, wie zuerst die Landjugend, dann die katholische Kirche und später der Sportverein den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit gibt, ihren Aktions- und Erlebnisradius vom Hof in die Welt hinaus zu erweitern. Und auch der der Mutter vergrößerte sich im Laufe der Jahre durch Weiterbildungsangebote und die Chancen, aktiv in der eigenen Pfarrgemeinde mitarbeiten zu können.
Das Buch ist unterteilt in mehrere große Kapitel, in denen Frie beispielsweise die 1950er-Jahre als „Jahre meines Vaters“, die 1960er als „Jahre meiner Mutter“ und im Kapitel „Auszug“ unter anderem die Übergabe des Hofes an den ältesten Sohn im Jahr 1972 beschreibt.
Ewald Frie hatte noch einen weiteren Grund, gerne nach Kempen zu kommen, und den konnte Elisabeth Friese, ehemalige Kulturamtsleiterin, erklären. 1992 lernte sie Frie kennen, als sie, Frie und ein dritter Wissenschaftler einen Preis für ihre Promotion erhielten. Zum 30. Jahrestag der Preisverleihung erhielt sie von Frie einen Zeitungsartikel über die Verleihung. Und als Friese und die Volkshochschule als Veranstalter der Lesung zusammensaßen, erzählte Friese die Geschichte im Zusammenhang mit Fries Buch und schlug vor, ihn einzuladen. „Machen Sie mal“, lautete die Antwort. Zwei Tage später kam die Zusage.