20 Jahre Süchtelner Familienpflege
48 Familien sind es augenblicklich, die einen Patienten aufgenommen haben. Inge Birkner betreut zwei Patientinnen.
Süchteln. Neu ist die Idee nicht, das betont Rainer Pöppe, der Ärztliche Direktor der Süchtelner LVR-Kliniken, bei seiner Rede zum 20-jährigen Bestehen der psychiatrischen Familienpflege. Schon im Jahr 1807 sei der Dichter Friedrich Hölderlin - als er im Alter von 37 Jahren dem Wahnsinn verfiel - von der Familie eines Tischlers aufgenommen und bis an sein Lebensende mit 73 Jahren betreut worden.
Auch Friedrich Nietzsche wurde aus der Irrenanstalt entlassen, seine Mutter und seine Schwester übernahmen zehn Jahre lange bis zu seinem Tod seine Pflege. Die damaligen Verhältnisse waren zum Teil dramatisch: "Hölderlin galt als schwierig, und der Tischler soll ihn geschlagen haben", berichtet Pöppe.
Die heutige Form der Familienpflege entwickelte sich Ende der 80er Jahre. "Man hatte erlebt, dass die Patienten - gut mit Medikamenten versorgt - viele Jahre auf den Stationen verbrachten, beliebt als Hilfen in Küche und der Wäscherei", erinnert sich der Direktor. Dann wollte man ihnen ein neues Leben ermöglichen, einen vertrauteren Umgang mit anderen Menschen, einen ganz normalen Alltag.
So einen Alltag, wie ihn Inge Birkner kennt - mit den beiden Patientinnen, die bei ihr seit fünf und drei Jahren leben. Sie selbst ist 65 Jahre alt und ans Haus gebunden, weil sie seit acht Jahren ihre demente Mutter pflegt.
Die beiden Frauen, die sie aufgenommen hat, haben jeweils ein eigenes Zimmer und ein gemeinsames Bad. Birkner: "Aber wir leben zusammen unseren Alltag" - etwa mit Fernsehen und Spaziergängen. Die ältere der beiden ist pensioniert und hilft ihr bei der Hausarbeit, die jüngere arbeitet im Heilpädagogischen Zentrum.
Inge Birkner hat ihren Rhythmus, in den sich die beiden einfinden. "Mittags zwischen zwei und vier Uhr ziehe ich mich zurück, danach gibt es Kaffee." Wenn sich der Zustand einer der Frauen verschlechtert, "dann merke ich das sofort", sagt Inge Birkner. Sie wendet sich dann an Ursula Schenk, Krankenschwester an der Süchtelner Klinik.
"Ich komme dann raus und wir überlegen, was zu tun ist", sagt die Fachfrau. Dann wird ein Arzttermin vereinbart, denn vielleicht müssen die Medikamente neu eingestellt werden.
"Manchmal muss ich auch eine stationäre Aufnahme veranlassen", sagt sie. Rund 25 bis 30 Familien aus einem Umkreis von 100 Kilometern melden sich jedes Jahr als Pflegefamilie bei der Klinik. Nur die Hälfte von ihnen nimmt schlussendlich einen Patienten auf.
In Gesprächen wird geklärt, ob sie geeignet sind und Kranken das Leben ermöglichen können, das sie sich vorstellen. "Manche wollen auf dem Land leben, andere in der Stadt, manche in einer Familie mit Tieren, andere alleine", berichtet Schenk.
Wenn es passt, kommt es zu einem gemeinsamen Kaffeetrinken, an das sich eine Woche Probewohnen anschließt. "Erst wenn alle sagen: ,Das ist in Ordnung’, wird der Vertrag gemacht", so die Krankenschwester.
48 Familien sind es augenblicklich, die einen Patienten aufgenommen haben. Inge Birkner ist stolz, dass sich beide Frauen so stabil entwickeln. Mit den krankheitsbedingten Eigenheiten kommt sie ganz gut klar. "Leichter als mit denen meiner Mutter." Da habe es lange gedauert, die Demenz anzunehmen.