Das unglaubliche Leben der Elfriede Rinkel
Im Krieg war sie KZ-Aufseherin in Ravensbrück, später heiratete sie einen in die USA geflohenen Juden. Wegen ihrer Vergangenheit musste sie die Vereinigten Staaten im hohen Alter verlassen. Jetzt ist sie in einem Willicher Altenheim gestorben.
Willich. Den Krieg überstanden, nach Amerika ausgewandert, dort die große Liebe gefunden und in San Francisco glücklich gelebt. So ist das Leben von Elfriede Rinkel treffend beschrieben — allerdings nur bis etwa 2006. Da nämlich musste die damals 84-Jährige die USA fluchtartig verlassen. Es war ein Rauswurf. Die alte Dame zog ins Willicher Stadtgebiet, wo sich Familienangehörige um sie kümmerten. Was war geschehen? Wieso hatte die Frau, die vor einigen Tagen in einem hiesigen Altenheim gestorben ist, die Blicke der Weltöffentlichkeit auf sich gezogen? Das hat mit einem dunklen Kapitel in der Biografie von Rinkel zu tun: Sie hatte als junge Frau im Konzentrationslager Ravensbrück als Aufseherin gearbeitet. Und dann später einen Juden geheiratet, der vor den Nationalsozialisten geflohen war und dem sie nie etwas von ihrer Vergangenheit erzählt hatte.
Der Reihe nach. Die gebürtige Leipzigerin hatte es während des Krieges nach Berlin verschlagen. Um ihrem Job als Fabrikarbeiterin zu entkommen, nahm sie im Herbst 1944 das Angebot an, als Aufseherin in einem Konzentrationslager zu arbeiten. Denn das wurde ungleich besser bezahlt. „Es gab keinen anderen Weg“, erklärte sie vor einigen Jahren im Gespräch mit der WZ. Um immer und immer wieder zu betonen, dass sie kein Nazi gewesen sei: „Meine Aufgabe war es, die Gefangenen zur Arbeit zu bringen.“ Anfangs habe sie sogar mit diesen gesprochen, das sei dann aber verboten worden. Und auch den Hund, den sie geführt habe, habe sie niemals gegen Gefangene eingesetzt.
Wie kam sie auf die Idee, in die USA auszuwandern? „Eigentlich sollte die ganze Familie emigrieren“, erinnert sich die deutlich jüngere Schwester der nun Verstorbenen. Der Bruder, der als Kriegsgefangener nach Übersee gekommen war und der mittlerweile in Berkeley (Kalifornien) lebte, besorgte seiner Schwester eine Aufenthaltserlaubnis (Greencard). Elfriede zog hin, lernte in San Francisco ihren späteren Mann Fred Rinkel kennen. Der hatte bis in die 30er Jahre in Berlin gelebt, war dann auf abenteuerliche Weise über Shanghai nach Amerika vor den Nazis geflohen. Seine Eltern waren vom Nazi-Regime ermordet worden.
Nicht zuletzt die genannten Umstände dürften Elfriede Rinkel dazu bewogen haben, ihrem Mann nie etwas von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Es sei nie der richtige Zeitpunkt gewesen, erzählte sie später der WZ. Ihre Mutter und ihre jüngere Schwester blieben am Niederrhein, nicht zuletzt der Liebe wegen. Die junge Frau heiratete, gemeinsam mit ihrem Mann übernahm sie später einen Bauernhof bei Anrath. Was wusste sie von der Vergangenheit ihrer Schwester? „Nicht viel. Der Bruder hat mal eine Andeutung gemacht. Aber letztlich ist nicht darüber gesprochen worden.“
Die Angst, ihre Vergangenheit könnte ans Licht kommen, hinderte wohl Elfriede Rinkel auch daran, einen Einbürgerungsantrag für die USA zu stellen. Jahrelang ging alles gut, das Paar lebte im Stadtteil Nob Hill, wo Fred Rinkel ein Krawattengeschäft betrieb. „Die beiden harmonierten unglaublich gut“, erinnert sich die Schwester. Sie selbst und auch andere Familienangehörige nutzten die Gelegenheit, Elfriede und ihre amerikanische Familie zu besuchen. „Sie lebten unmittelbar an der Cable Car“, sagt sie und lobt ihren Schwager: „Er war immer freundlich, half, wo er konnte.“ Mit einem konnte sich Fred Rinkel bei seinen Besuchen in Deutschland allerdings nie anfreunden: Die Familienfeiern waren dem Mann, der gern Opernsänger geworden wäre, zu deftig. Er starb 2004 im Alter von 88 Jahren an einem Herzinfarkt. Auf dem Stein des Doppelgrabes auf dem jüdischen Friedhof war Platz gelassen für seine Ehefrau. Es kam bekanntlich anders.
Archive werden immer noch geöffnet und Personendaten abgeglichen. Im Zuge einer solchen Aktion kam Elfriede Rinkels Vergangenheit ans Licht. Das US-Heimatschutzministerium hatte alte Namenslisten von KZ-Personal in ein neues Computerprogramm eingegeben — die Spur führte zu Elfriede Rinkel. Die gab ohne Umschweife alles zu und schloss einen Deal mit der amerikanischen Staatsanwaltschaft: Sie gab die Greencard zurück und konnte ausreisen. Dafür musste sie sich verpflichten, nie mehr zurückzukehren. Rinkel hat das Grab ihres geliebten Mannes nicht mehr besuchen können.
„Ich hatte ihr schon nach dem Tod ihres Mannes vorgeschlagen, sie solle doch nach Deutschland kommen“, erinnert sich die Schwester. Wie auch ihr Bruder und andere Verwandte in Deutschland erfuhr sie erst spät, warum ihre Schwester zurückgekommen war. Glück im Unglück: Bei der Neuorganisation von Elfriedes Leben konnte die Rückkehrerin auf die Hilfe der Nichte und ihres Mannes setzen. Und da gab es einiges zu klären. „Unter anderem stand die Staatsanwaltschaft vor der Tür und ermittelte wegen Mordes“, erklärt der Neffe. Das Verfahren wurde wenig später eingestellt — kein Anfangsverdacht.
Damit war’s nicht getan: Krankenkasse, Wohnung, Rente und später Pflege — das regelte sich nicht von alleine. Zunächst wohnte Elfriede Rinkel in Schiefbahn, zog dann in ein Altenheim. Hier gab’s zwischenzeitlich Probleme. Die Heimleitung war anonym über die ja längst nicht mehr geheime Vergangenheit der Frau informiert werden. Sie drängte bei der Verwandtschaft, Frau Rinkel doch wieder aus dem Heim zu nehmen. Man befürchtete Nazi-Aufmärsche vor dem Heim. Das Ganze blieb ein Sturm im Wasserglas. Versuche von Zeitungen und TV, an Elfriede Rinkel heranzukommen, blieben weitgehend erfolglos. In den letzten Jahren machte dies auch keinen Sinn mehr, sie wurde zum Pflegefall, war kaum noch aufnahmefähig. Dennoch wurde sie fast 96 Jahre alt. Ihre Urne wurde jetzt anonym bestattet.