Tönisvorster Stadtgeschichte Katholische Kirchen als Siegessymbole

Serie | Tönisvorst · Vor 150 Jahren erschütterte eine Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche die katholischen Gemeinden am Niederrhein: Der „Kulturkampf“. Die katholische Seite ging als Sieger hervor und dominierte künftig kulturell, aber auch politisch das Leben in der Region.

Vorst zur Zeit des Kaiserreichs, im Jahre 1906. Zwei gegensätzliche Monumente prägen den Ortskern: der Neubau der Pfarrkirche St. Godehard und das Kriegerehrenmal — beide 1896 eingeweiht.

Foto: Heimatverein Vorst

Januar 1871: Im Spiegelsaal des französischen Königsschlosses von Versailles tritt eine Gesellschaft hochrangiger Militärs zusammen. Im Prachtschloss Ludwigs XIV., mit dem sich für viele Franzosen Ruhm und Glanz einer vergangenen Epoche verbinden, wird der preußische König Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Eine Demütigung für die französische Nation. Diese Kaiserproklamation ist der Schlusspunkt eines Krieges, in dem Deutschland seinen „Erbfeind“ Frankreich nach nur sieben Monaten faktisch besiegt hat. Sie bringt die lange herbei gesehnte Vereinigung des zersplitterten Deutschland, bis dahin aus 36 Einzelstaaten bestehend, zu einem Nationalstaat unter den preußischen Hohenzollern in einem Deutschen Reich. Drahtzieher der Einigung ist der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck.

Als am Dienstag, 28. Februar 1871, die Nachricht vom bevorstehenden Friedensvertrag zwischen Frankreich und Deutschland im Rheinland eintrifft, kennt die Begeisterung keine Grenzen. Auch nicht in St. Tönis. Auf dem Bahnhof wird die schwarz-weiß-rote Reichsfahne gehisst, und am Abend zieht ein kilometerlanger Fackelzug durch den Ort, an der Spitze die Kapelle des Musikvereins, die die „Wacht am Rhein“ intoniert. Wer eine Flinte oder eine Pistole besitzt, gibt Freudenschüsse ab. In den Fenstern werden bengalische Feuer abgebrannt. „Die Grande Nation ist zu Boden geworfen, Deutschland aber zu einer großen Nation geworden!“, jubelt am nächsten Tag in ihrem Bericht die „Crefelder Zeitung“. Und fügt hinzu: „Deutschland ist nunmehr geachtet von allen Nationen des Erdballs, aber zugleich auch gefürchtet.“ In den nächsten Jahrzehnten werden überall Ehrenmäler für die im Einigungskrieg gefallenen Soldaten errichtet. In Vorst im Jahr 1896 auf dem heutigen Eduard-Heinkes-Platz am Ende der Clevenstraße, wo der Denkmal-Obelisk unter den Schwingen des preußischen Adlers bis Anfang der 1960er-Jahre stand. In St. Tönis entstand erst 1927 ein Kriegerehrenmal, allerdings für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, auf dem Ehrenfriedhof.

Bald schlägt am Niederrhein die nationale Begeisterung um in Skepsis gegenüber dem jungen Kaiserreich, bei vielen sogar in Ablehnung. Auslöser des Stimmungswandels ist der sogenannte Kulturkampf, den Bismarck, nunmehr Reichskanzler, gegen die katholische Kirche führt. Hintergrund: Das neue Deutsche Reich ist vorwiegend protestantisch geprägt. Im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil sind die Katholiken an allen einflussreichen Stellen drastisch unterrepräsentiert. Kein Wunder, dass der politische Katholizismus großenteils in Opposition zum Bismarck‘schen Reich steht. Der Kanzler, klug und kultiviert, aber auch herrschsüchtig und vom Erfolg verwöhnt, sieht darin eine Gefahr. Durch rigorose Gesetzgebung versucht er, den Einfluss der katholischen Kirche zurückdrängen.

Den Auftakt bildet 1871 der sogenannte Kanzelparagraph. Er verbietet den Geistlichen, sich während einer Amtshandlung, zum Beispiel im Gottesdienst, politisch zu äußern. 1872 wird der Geistlichkeit die Aufsicht über die Schulen abgenommen und in die Hände des Staates gelegt. 1873 werden die Ausbildung und Amtseinsetzung der Geistlichen dem Staat unterstellt. Die Kirche wird praktisch enteignet. Das verbleibende Vermögen wird nunmehr von gewählten Gemeindevertretungen verwaltet. Die letzte Verordnung, im Juni 1875, löst in Preußen die Klöster auf, mit Ausnahme derjenigen, die sich auf die Krankenpflege beschränken. Geistliche, die sich widersetzen, werden bestraft, möglicherweise sogar mit Gefängnis; sie können auch abgesetzt werden. Beamte, die den Anordnungen widersprechen, können ihres Amtes enthoben werden. In Vorst bleibt nach dem Tode von Pfarrer Heinrich Paulesen (1880) die Pfarrstelle vier Jahre lang unbesetzt.

Im damaligen Kreis Kempen-Krefeld, wo 95 Prozent der Bevölkerung katholisch sind, stößt Bismarcks Vorgehen auf heftigen Widerstand. Der Distrikt gehört damals zum Bistum Münster. Dessen Bischof, Johannes Bernhard Brinkmann, ist im Zuge des Kulturkampfes am 18. März 1875 im Kreisgefängnis Warendorf gelandet. Nach seiner Entlassung am 27. April ist Brinkmann an die Landesgrenze ausgewichen, nach Leuth, wo er, bereit zur Flucht in die Niederlande, im Pfarrhaus wohnt. Sein Enthebungsverfahren durch die preußische Regierung läuft. Um ein Zeichen des Widerstandes zu setzen, fährt der Bischof mit seiner Kutsche ins nahe Kirchen-Dekanat Kempen. Zur Feier der Firmung – der in der katholischen Kirche üblichen, endgültigen Verwurzlung der Jugendlichen im christlich-katholischen Glauben.

Bischof Brinkmann
galt als Märtyrer

Eine Tour durch verschiedene Städte und Gemeinden wird zum Triumphzug. Bischof Brinkmann gilt als Märtyrer und wird überall sehnsüchtig erwartet. Die Bevölkerung errichtet ihm Triumphbögen und schmückt die Straßen mit Birkenbäumchen, sogenannten Maien. Fahnen hängen an den Fassaden, Blumen werden aufs Pflaster gestreut. Am Donnerstag, 20. Mai, kommt der hohe Herr nach St. Tönis, wo ihm bei der Einfahrt eine unübersehbare Menschenmenge zujubelt. Am nächsten Morgen erteilt er 650 Kindern die Firmung, fährt dann nach Vorst. Hier hat die Ortspolizei einen Triumphbogen, der das Kirchenportal umrahmt, eigenhändig entfernt. Um ja zu verhindern, dass der Oberhirte die Schulkinder zur Firmung abholt, wird an diesem Tag auf Geheiß von Bürgermeister Jacob Seulen das Innere der Schule weiß gestrichen. Die Lehrer – sämtlich Reserveoffiziere – sind zu einer Übung mit dem neuen Mauser-Gewehr nach Düsseldorf in die Kaserne befohlen. Aber auch in Vorst findet unter Beteiligung der ganzen Gemeinde die feierliche Firmung statt.

Ab 1880 wurden Bismarcks Gesetze großenteils wieder zurückgenommen. Bestehen blieben die Schulaufsicht durch den Staat, die Gültigkeit der Ehe nur durch die standesamtliche Trauung, die staatliche Aufsicht über das kirchliche Vermögen. Indes: Der „Kulturkampf“ hatte die Katholiken nicht eingeschüchtert, im Gegenteil: Im Bestreben, ihre Diskriminierung durch den protestantisch geprägten Staat nicht hinzunehmen, formierte die katholische Bevölkerungsmehrheit am Niederrhein sich in den nächsten Jahrzehnten zu einer geschlossenen politischen Gemeinschaft. Künftig dominierte die katholische Zentrumspartei die Region. Als Zeichen der Glaubenstreue entstanden nun prachtvolle Kirchen: neugotische Kathedralen, deren hoch ragende Türme seither das niederrheinische Flachland prägen.

Zu dieser Zeit vollzog sich ein rasantes Bevölkerungswachstum. Deshalb liefen schon länger Planungen zum Bau größerer Kirchen: In St. Tönis schon seit 1852, in Vorst seit 1857. Aber jetzt erst, als nach dem gewonnenem Kulturkampf das Selbstbewusstsein der Katholiken im Zenit steht, kommt es zu einer regelrechten Sturzflut von Kirchenbau-Spenden. So können die Bauprojekte zügig verwirklicht werden. Am 28. Oktober 1885 findet in St. Tönis der erste Gottesdienst in der neuen Kirche St. Kornelius statt. In Vorst wird am 11. Oktober 1896 der Neubau von St. Godehard eingeweiht. Siegessymbole des Katholizismus.