Lokführer über Suizide auf der Schiene „Du kannst dich darauf nie vorbereiten“

Kreis Viersen · Sieben Menschen warfen sich bisher im Jahr 2024 vor den Niersexpress, um ihr Leben zu beenden. Was das mit denen macht, die ihn steuern.

Mike Haack war früher bei der Bundeswehr, seit 2012 fährt er den RE 10.

Foto: Eirik Sedlmair

Der erste Unfall geschah in den Morgenstunden. Mike Haack fuhr den Niersexpress von Kleve in Richtung Geldern, es war zwischen vier und fünf Uhr morgens. Haack sah eine Frau über die Gleise laufen. Erst dachte er, die Frau wäre weg, hätte es geschafft. Doch dann stand sie direkt vor dem RE 10, der Zug erfasste sie. Die Frau war tot. „Das Problem ist: Ich konnte nicht weggucken“, sagt Haack über den Moment des Aufpralls. Haack ist Lokführer bei der Rhein-Ruhr-Bahn, seit über zehn Jahren fährt er vor allem auf der Streck des Niersexpress. Und musste in dieser Zeit zwei Mal mitansehen, wie ein Mensch sich dazu entschied, sein Leben mithilfe des Zugs zu beenden, den Haack gerade fuhr.

In Deutschland gab es 2023 690 Schienensuizide.

Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Immer wieder werfen sich Menschen vor Züge. Fahrgäste bekommen davon, sofern sie nicht selbst in dem betroffenen Zug sitzen, im Normalfall nur mit, dass der Zug ausfällt. „Notarzteinsatz“ heißt es dann oft in den offiziellen Durchsagen der Bahn. Oder „Unbefugte Personen im Gleis“. Insgesamt ist die Anzahl von Suiziden auf der Schiene in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren gesunken. Laut dem aktuellen Sicherheitsbericht des Eisenbahnbundesamtes gab es im Jahr 2023 in Deutschland 690 Schienensuizide, 2013 waren es noch 843. Die RE 10-Strecke zwischen Kleve und Düsseldorf sei „besonders betroffen“, sagt Jannik Hoenzelaer, Leiter Triebfahrzeugführer Kleve und Teil der Unfallbereitschaft bei der Rhein-Ruhr-Bahn. Sieben Unfälle gab es bisher im Jahr 2024 auf der Strecke.

Ein Triebwagen des Niersexpress wiegt 64 Tonnen, der RE 10 fährt meistens 120 Kilometer pro Stunde. Das ergibt bei voller Fahrt einen Bremsweg von über einem Kilometer. Die Lokführer haben keine Chance, den Zusammenprall zu verhindern.

Nach dem Knall funktionierte Haack nur noch. Er wählte den Notruf, informierte seinen Einsatzleiter. Er drückte auf die „8“. Einen Knopf auf dem Armaturenbrett im Führerhaus, der die Fahrgäste mittels einer Durchsage darüber informiert, dass es einen Personenunfall gegeben hat. Haack ging durch den Zug und informierte noch einmal die Fahrgäste, versuchte, sie zu beruhigen. Die Strecke wurde sofort gesperrt, die Bundespolizei musste sie wieder freigeben. Das kann oft lange dauern, manchmal Stunden. Und nicht alle Fahrgäste haben dafür Verständnis. „Viele rufen dann etwas von Freiheitsberaubung, wollen, dass wir unbedingt weiterfahren“, sagt Haack. Er saß dann wieder vorne und wartete. Auf Polizei und Feuerwehr. Auf die Notfallseelsorger. Auf die Kollegen der eigenen Unfallbereitschaft. Ein Arbeitskollege holte ihn schließlich ab, brachte ihn nach Hause. Wirklich verstanden, was passiert ist, habe Haack erst am nächsten Tag. „Das ganze Geschehen kommt erst wieder, wenn du mit der Familie darüber sprichst“, sagt er.

In vielen Berichten findet man das Narrativ, dass jeder Lokführer im Schnitt drei Schienensuizide erlebt. Die Quelle dafür stammt aus dem Jahr 2003, ist also veraltet – und nicht mehr ganz richtig. 690 Schienensuizide gab es 2023, bei etwa 35 000 Triebzeugführer. Das bedeutet, es trifft etwa Jahr für Jahr jeden 51. Lokführer. Rechnet man heraus, dass viele Lokführer nicht jeden Tag fahren, nicht dauerhaft im Einsatz sind, lässt sich feststellen: Im Schnitt erlebt jeder Lokführer ein bis zwei Selbsttötungen auf der Schiene in seinem Berufsleben.

Detlef Sußek ist seit 20 Jahren Lokführer – und musste schon vier Personenunfälle erleben. „Ich habe meine Enkel, die mich regelmäßig besuchen, das lenkt mich ab. Man muss sich ablenken“, sagt er. Durch die Unfälle habe er sich schon verändert, sei schneller gereizt. „Wenn ich sehe, dass jemand über die Gleise rennt, um den Zug noch zu erwischen, dann schmeiße ich die Person sofort raus“. Aber er sagt auch: Niemals werde er mit dem Job aufhören. „Ich mache den Beruf seit 20 Jahren. Ich will nichts mehr anderes machen“.

Mike Haack sagt über seinen Job „das ist schon ein Traumberuf“. Früher war er bei der Bundeswehr, fuhr dort auch die „dicken Geräte“: Panzer und Schiffe. Dann schulte er um und bewarb sich bei der Rhein-Ruhr-Bahn. „Ich mag Maschinen, wo richtig Dampf dahinter ist. Bääng“, sagt Haack. Wenn er vorne im Führerstand sitzt, spürt er die Kraft des Fahrzeugs unter sich, die beiden Motoren sind zusammengenommen 856 PS stark. Beim Bund sei er nicht so sehr mit dem Tod konfrontiert gewesen wie jetzt.

Die ersten neun Jahre
ohne einen Personenunfall

In Haacks Ausbildung waren die Unfälle immer wieder Thema. „Wir besprechen das mit den Bewerbern, sie werden auch von einem Psychologen und einer Ärztin befragt“, sagt Jannik Hoenzelaer. In der Ausbildung lernen die Lokführer das Protokoll bei einem Unfall, lernen, dass die vor dem Aufprall noch schnell das Rollo vor der Scheibe runterziehen sollen, damit sie den Aufprall nicht unmittelbar mitansehen. „Du kannst dich darauf nie vorbereiten“, sagt Mike Haack.

Die ersten neun Jahre seines Berufslebens hatte Haack Glück, er hatte nie einen Personenunfall. Nach dem Unglück kurz vor Geldern war er dann erst einmal vier Wochen nicht im Dienst. Schon am nächsten Tag fuhr Haack zu einer Psychologin nach Düsseldorf, ging zum Arzt. Ein paar Tage später fuhr er in den Urlaub, den hatte er schon vorher gebucht, mit der Familie ging es auf Fehmarn. „Das tat mir gut, das Rauskommen. Ich kam ein bisschen runter“, sagt Haack. Was ihm auch gut tat: Er sprach viel über den Unfall, erzählte seiner Familie, Freunden davon. Und er sprach mit Kollegen darüber. „Ich habe Kollegen, die ich jeden Tag anrufen kann. Wir sind hier wie eine Familie“.

Nach seinem Urlaub fuhr Haack erst einmal nicht selbst Zug. Er stellte sich in den Führerstand neben einen Kollegen, schaute ihm bei der Arbeit zu und fand so heraus, ob er wirklich schon bereit war, wieder zu arbeiten. Sie fuhren die Strecke ab, zur gleichen Uhrzeit, zu der sich auch der Unfall ereignete. „Unsere Kollegen bekommen alle Zeit, die sie brauchen. Und nur wenn Ärztin, Psychologe und der Kollege selbst sagen, dass es wieder geht, dann dürfen sie wieder in die Lok steigen“, sagt Jannik Honzelaer.

„Als ich das erste Mal wieder selbst gefahren bin und an der Unfallstelle vorbeikam, war das schon ein komisches Gefühl“, sagt Haack. Die Bilder des Unfalls kamen wieder hoch. „Die Angst, dass es jederzeit wieder passieren kann, die fährt immer mit“. Wenn Haack an Büschen vorbeifahrt, die sich im Wind bewegen, zuckt er zusammen. Horrorfilme kann er nicht mehr schauen. Trotzdem, der erste Unfall sei für inzwischen wie ein Film, ein wenig surreal, er lasse ihn nicht mehr so sehr an sich heran. Der zweite Unfall hingegen, sagt Haack, der habe ihn schwerer erwischt.

Es war nachts, Haack musste einen Zug von Geldern nach Kleve überführen. Es handelte sich um eine Leerfahrt, Haack war komplett alleine in dem Zug, als plötzlich eine Gestalt auf den Schienen erschien. „Sie hatte eine Kapuze auf, hat mich direkt angeguckt“, sagt Haack. Später stellte sich heraus, dass es sich um eine 18-jährige Frau handelte, so alt wie Haacks Tochter. Dieses Mal wählte Haack nicht die „Acht“, schließlich waren keine Fahrgäste im Zug. Er saß alleine in seinem Führerstand und wartete auf die Einsatzkräfte und seine Kollegen. Danach war er gut sechs Wochen raus. „Diesen Geruch werde ich nie vergessen. Man sagt ja immer, man kann Gerüche nicht träumen, aber das stimmt nicht. Ich habe davon geträumt“, sagt Haack.

Der Ablauf nach einem
Unfall ist immer gleich

Eine Zeitlang habe er sein Lachen verloren. „Mit jedem Unfall stirbt auch ein Teil von dir“, sagt Haack. Ans Aufhören dachte er trotzdem nie. Dafür liebe er den Job zu sehr. „Wütend war ich aber nicht. Wer stehenbleibt, wenn mehrere Tonnen auf dich zurollen, der weiß sich auch nicht anders zu helfen. Das sind Menschen, die krank sind. Ich bin aber überzeugt: Es gibt immer andere Auswege“, sagt Haack. Aber natürlich sei man absolut machtlos, man werde zu etwas gezwungen, was man nicht wolle. „Wichtig ist, den Lokführern klarzumachen, dass sie als Werkzeug benutzt worden sind. Dass sie nichts dafür können“, sagt Jannik Honzelaer. Der Ablauf nach einem Unfall ist immer gleich: Der Lokführer bringt den Zug zum Stehen, setzt den Notruf ab. Der leitet dann die nächste Meldekette ein. Deutsche Bahn, Polizei, Staatsanwaltschaft und die Rettungskräfte werden informiert. Die Staatsanwaltschaft auch deswegen, weil die Lokführer theoretisch bei den Angehörigen auf Schadensersatz klagen könnten. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass das mal jemand gemacht hat“, sagt Jannik Honzelaer. Auch er betont nochmal, wie wichtig es sei, dass die Kollegen nicht alleingelassen würden. Dass ein Mitarbeiter der Rhein-Ruhr-Bahn als PTBS-Betreuer vorbeikommt und beim Lokführer bleibt, ihn nach Hause bringt. PTBS steht für posttraumatische Belastungsstörung.

Nach dem ersten Unfall von Detlef Sußek saß der PTBS-Betreuer der Rhein-Ruhr-Bahn drei Stunden mit bei ihm Zuhause, sie tranken Kaffee und warteten, bis seine Frau nach Hause kam.

Sußek und Haack ist eine Sache noch besonders wichtig: Die Fahrgäste sollen verstehen, dass da vorne ein Mensch sitzt, dem sie regelmäßig einen Schock einjagen. Zum Beispiel die Kinder, die am Bahnsteig sitzen und die Beine in Richtung der Schienen baumeln lassen. „Wenn die beim Aufstehen nur einen falschen Schritt machen, ist es zu spät“, sagt Sußek. Oder die Gleisläufer. „Wenn Leute über die Gleise rennen, denkst du immer: Jetzt passiert es wieder“, sagt Haack – und ergänzt: Viele wüssten gar nicht, was sie dem Lokführer damit antun.