Brauchtum in Grevenbroich-Stadtmitte Jüngster Kronprinz der Schützen-Geschichte
Grevenbroich · Der BSV Stadtmitte hat am Wochenende sein 175-Jahr-Jubiläum gefeiert: mit einer Kirmes wie zu Kaisers Zeiten, einer unterhaltsamen Jahrhundert-Revue und einem Königsvogelschuss, der in die Vereinsgeschichte eingehen wird.
Die Bürgerschützen in der Stadtmitte haben einen neuen Kronprinzen – den jüngsten aller Zeiten: Beim Vogelschuss am Samstag hat der 24-jährige Julian Flintz vom Jägerzug „St. Sebastian“ (gegründet vor 70 Jahren) das hölzerne Federvieh mit dem 37. Schuss von der Stange geholt. Damit setzte er sich gegen seine Mitbewerber Lukas Esser und Alexander Götzen durch. An Flintz‘ Seite: Kronprinzessin Leonie Wilms (22). Die beiden werden am Schützenfest-Dienstag im September die Regentschaft des bis dahin amtierenden Königspaars Rüdiger und Stefanie Schlott übernehmen.
Der gelernte Anlagenmechaniker Julian Flintz war 2018 bereits Jungkönig des BSV und will die Sache nun abrunden. Die Entscheidung, am Jubiläums-Wochenende auf den Vogel zu schießen, hatte er erst vor wenigen Wochen getroffen. „Ich wollte es immer mal machen“, sagte Flintz: „Für mich geht ein Traum in Erfüllung.“ Der Grevenbroicher und seine Prinzessin gehen als das jüngste Kronprinzenpaar in die Geschichte des BSV Stadtmitte ein. Das Paar schreibt die 175-jährige Historie des Vereins fort, auf die am Wochenende gebührend zurückgeblickt wurde. Die Grevenbroicher konnten zu diesem Anlass eine historische Kirmes auf dem Turnierplatz besuchen. Zu dem Rummel von anno dazumal zählte unter anderem eine Schiffsschaukel, ein Karussell, ein „Hau‘ den Lukas“ sowie ein Riesenrad von 1902. Während der Kirmes-Auftakt am Freitag wegen des Regens ins Wasser gefallen war, erfreute sich das Team um Schausteller Werner Feldmann danach eines regen Zuspruchs. Die Nostalgie-Kirmes fanden viele gut – „mal etwas anderes“, sagten Besucher.
Gut angekommen ist auch die Jahrhundert-Revue am Freitagabend unter dem Titel „Bürger, Schützen und unsere Stadt“, zu der rund 600 Zuschauer gekommen waren. Sie sahen ein aufwendig produziertes Schauspiel mit perfekt abgestimmter Musik, für das der Regisseur Martin Maier-Bode verantwortlich zeichnete. „Licht aus, Spot an!“, hieß es im Festzelt. Das Ensemble um den Grevenbroicher Schauspieler Harry Heib brachte ein tolles Stück auf die Bühne, entführte auf eine anderthalbstündige Reise durch das Grevenbroich vergangener Zeiten – stets mit Bezug zur Schützen-Historie.
So beamten sich der Brauchtumsfreund Anton (gespielt von Eddy Schulz) und die Stadtarchivarin Lena (Franziska von Werden) auf der Suche nach der Gründungsurkunde des BSV ins Jahr 1849. Dort angekommen, wurden sie Zeugen, wie der erste Schützenkönig den zunächst skeptischen Landrat davon überzeugen konnte, einen Schützenverein zu gründen. Die Reisenden aus dem Jahr 2024 überredeten den ersten König sogar, ihnen die Gründungsurkunde anzuvertrauen. Allerdings: Völlig losgelöst von der Erde und schwerelos (die Liveband stimmte „Major Tom“ an) ging’s in der Zeitmaschine nicht zurück ins Hier und Jetzt, wo die Urkunde gefragt war. Die Reisenden blieben im 19. Jahrhundert und trafen den Dichter Vinzenz von Zuccalmaglio, genannt Montanus. Bei ihm ließen Anton und Lena die Urkunde versehentlich liegen.
Das Ensemble nahm die Stadt charmant auf die Schippe
Die Zeitreisenden klapperten in der Folge weitere Stationen ab, ließen sich etwa im Jahr 1908 von der Schützenkönigin (Stefanie Lenz) erzählen, dass das Brauchtum in Grevenbroich in einer tiefen Krise steckt. Die Schauspieler widmeten sich auch düsteren Epochen, der Nazi-Zeit beispielsweise. Da wurde es ernst auf der Bühne. Aber kurz darauf, in der Wirtschaftswunder-Zeit, wieder fröhlich. Das Ensemble verstand es, allerlei Grevenbroich-Spezifisches anzuschneiden, die Stadt hier und da auch mal auf die Schippe zu nehmen – charmant, aber niemals albern.
In den wilden 70ern angekommen, verkörperten die vier Spieler Kirmesbesucher in Hippie-Manier, die dem Verzehr von Haschkeksen nicht abgeneigt sind und dadurch ins Halluzinieren geraten: Sie sahen, wie die Mauer fällt und ein korpulenter Herr mit pfälzischem Dialekt von „blühenden Landschaften“ spricht. Die Urkunde, die die Protagonisten finden wollten, verloren sie mehr und mehr aus den Augen, konnten sich dann aber wieder besinnen – und wurden im Jahr 1995 fündig: ausgrechnet bei Lenas Eltern. Sie erfuhren, dass ihr Vater, Schütze durch und durch, das Schriftstück verwahrt.
Damit tauchte das gesuchte Dokument wieder auf. Die Zeitreise war aber nicht beendet: Einmal noch stiegen die Spieler in die Maschine. Sie reisten in die Zukunft, ins Jahr 2199. Das Schützenfest – so ihre Beobachtungen – wird es auch dann noch geben. Allerdings schicken die Schützen ihre Avatare zum morgendlichen Antreten. Und dass auch Frauen mal den Vogel von der Stange holen, scheint in der Zukunft eine Selbstverständlichkeit zu sein. „Erstaunliche Aussichten“, fasste Harry Heib zusammen. Er betonte: „Das Schützenfest ist nicht von einer Urkunde abhängig, sondern von den Menschen.“
Die Schauspieler ernteten großen Applaus, auch gab es Beifall für die Musik und den Gesang. So hatten die Spieler etwa „It’s Raining Men“ der Weather Girls zu einer GV-Version umgetextet („In Grevenbroich, Halleluja! In Grevenbroich. . .“). Und gleich zu Beginn hatte Heib das Lied „Strangers in the Night“ von Frank Sinatra in „Grevenbroich bei Nacht“ umgedichtet – mit etwas mehr Schützeninhalt, also nicht ganz so, wie es ein fiktiver Grevenbroicher Journalist einst geschlämmert hatte.
Gerührt von dem Auftritt ergriff Schützen-Präsident Detlef Bley das Wort: „Ihr habt das richtig klasse gemacht.“ Bley hatte noch eine Überraschung parat, und zwar in Bezug auf die echte Gründungsurkunde. Sie war tatsächlich über 40 Jahre hinweg verschollen, bis sie vor zehn Jahren in einem Nachlass auftauchte. Der Vorvorgänger von Bley hatte das Original von 1849 in einer Plastikmappe verwahrt. Der Verein lagerte das historische Papier ein Jahrzehnt lang im Panzerschrank des Archivs, bis es nun von Spezialisten des Landschaftsverbands Rheinland in Brauweiler restauriert wurde. „Seit Donnerstag ist die restaurierte Gründungsurkunde wieder beim BSV“, sagte Bley und präsentierte stolz zwei Kopien im XXL-Format auf der Bühne. Nie zuvor war das zweiseitige Schriftstück mit 33 Unterschriften der Gründungsmitglieder öffentlich gezeigt worden.