Kaarst: „Anders als bei Schmetterlingen“

Jugend: Für viele ist „Doktor Sommer“ ein Phantom. Doch das ist er nicht. Vor 40 Jahren erschuf Martin Goldstein den Aufklärer der Nation.

Kaarst. Als vor 40 Jahren, im Oktober 1969, das Heft 43 der Bravo erschien und der Arzt Martin Goldstein unter dem Pseudonym Dr. Jochen Sommer begann, unsicheren Teenies durch die Pubertät zu helfen, war die Aufregung noch groß. Zweimal stand die Bravo auf dem Index. Staatliche Jugendschützer befanden: "Die Geschlechtsreife allein berechtigt noch nicht zur Inbetriebnahme der Geschlechtsorgane." Das Image des Schmuddeligen und sexuell Anrüchigen haftet noch in vielen Köpfen, doch allmählich kamen auch viele Experten zu dem Schluss, dass es sich bei dem Ratgeber aus München eigentlich um seriöse und professionelle Jugendberatung handelt.

15 Jahre lang war Goldstein "Dr. Sommer". "Ich bin der einzige, der sich auch so nennen darf, alle anderen nach mir bezeichnen sich nur als Dr.-Sommer-Team", erzählt der über 80-Jährige, der in Kaarst lebt.

Goldstein selbst hatte aber stets auch immer ein Team um sich. Denn als er 1969 begann, unverklemmt über Sexualität zu schreiben, gingen tausende Briefe in der Bravo-Redaktion ein. Ein Team beantwortete sie nach seinen Vorgaben. Wichtig sei Goldstein damals gewesen, zwischen den Zeilen zu lesen: Was weiß der Briefeschreiber schon, und woher? Braucht er Bestätigung, Trost oder Information? Inzwischen gibt jeder sechste Deutsche zu, Dr. Sommer habe zu seiner Aufklärung beigetragen.

Dabei war es ein Zufall, dass Goldstein 1969 zum Aufklärer der Nation wurde. Nach seinem Medizinstudium wurde er Leiter einer evangelischen Anlaufstelle für Jugendliche in Düsseldorf. Aus Mangel an geeigneter Literatur schrieb er selbst welche. Das Aufklärungsbuch "Anders als bei den Schmetterlingen" gefiel wiederum dem damaligen Chefredakteur der Bravo. Er wollte ihn für das Jugendmagazin: Endlich jemand, der die richtigen Worte fand. Das war Goldstein nur recht. "Ich wollte Jugendliche direkt erreichen", erinnert er sich.

Die Jugendlichen wissen heute vielleicht mehr und können sich auch vieles im Internet anschauen, sagt Goldstein, aber sie seien noch genauso unsicher wie vor 40Jahren. Nach wie vor herrsche in der Pubertät sehr viel Scham.

Der junge Mann, der mal Doktor Sommer werden sollte, hatte selbst keine richtige Jugend. Wegen seines jüdischen Vaters wurde er von den Nazis verfolgt, verbrachte sein 17. Lebensjahr in einem Zwangsarbeiterlager und später in einem Waldversteck. Goldstein brauchte 50 Jahre, um über diese Erlebnisse sprechen zu können. Vielleicht war es ihm deshalb später so wichtig, Worte dafür zu finden, über die "man nicht spricht".