Neuss: Immer weniger Zeit fürs Kindsein

Kinder werden immer öfter nicht nur gefördert, sondern auch überfordert.

Neuss. Verwahrlosung ist die eine Seite der Medaille - Überforderung die andere. Kinder und Jugendliche werden immer öfter mit einem praller werdenden Terminkalender überfordert. Das bestätigt auch Andreas Franzen, stellvertretender Leiter im Neusser Haus der Jugend: "Junge Menschen haben heute wenig freie Zeit für Ruhepausen. Viele Kinder haben an jedem Tag unter der Woche Programm." Auch im Teenageralter ändert sich kaum etwas: Notendruck und Nebenjob machen das Jungsein stressig. Zeit für Spontanietät oder um Freunde zu treffen, bleibt kaum.

Die Konsequenz: "Familien treffen erst abends aufeinander, wenn alle erschöpft und müde sind", sagt Christa Heiken-Löwenau, Leiterin der psychologischen Beratungsstelle im städtischen Jugendamt.

Auch Rainer Hagemeister, Inhaber der Further Musikschule, berichtet: "Die Eltern fahren ihre Kinder von Hü nach Hott, von Termin zu Termin und sind dabei selbst gestresst." Diese Tendenz habe sich in den vergangenen Jahren extrem verstärkt, hat der Experte beobachtet. "Eltern wollen ihren Kinder etwas bieten, und verlieren dabei oft den Überblick für das richtige Maß." Wenn sie überfordert seien, bringe der Musikunterricht nichts, dann würde er den Eltern zum Abbruch raten.

"Nicht von den Aktivitäten kommt der Stress, sondern davon, wie man damit umgeht", sagt Reinhard Knoll, Leiter der Neusser Musikschule. Wenn Eltern Druck machen, gehe dieser unweigerlich auf die Sprösslinge über. Doch auch viele Kinder sind übermotiviert: "Durch Medien und Gruppenzwang geben sich Kinder weniger dem Augenblick hin, aus Angst etwas zu verpassen. Sie wollen mehr erleben und verlieren an Hobbys schneller das Interesse", meint Michael Bienefeld, stellvertretender Vorsitzender beim Kreissportbund.

Dass viele Freizeitaktivitäten bei den Jungen und Mädchen in Stress ausarten, hat auch Gösta Müller, Geschäftsführer beim Stadtsportverband, beobachtet. "Aufgrund des größeren Angebots an den Ganztagsschulen verschieben sich die sportlichen Aktivitäten in den Abendbereich", sagt er. "Die Freizeit wird immer knapper." Alles müsse straff durchorganisiert sein, um funktionieren zu können.

Sein Lösungsansatz: Die Sportvereine sollten im Rahmen des Ganztags verstärkt mit den Schulen kooperieren und weiterhin versuchen, am Nachmittag sportliche Aktivitäten anzubieten.