Bialystok-Prozess: Akten machen „Banalität des Bösen“ greifbar
Begegnungsstätte Alte Synagoge erinnert mit Lesung im Polizeipräsidium an den Prozess zu Gräueltaten von Polizisten in Polen.
Der Saal 300 des Polizeipräsidiums Wuppertal ist hell erleuchtet, rund 50 Besucher haben sich an diesem Abend eingefunden, um an ein justizhistorisches Ereignis zu erinnern. In diesem Saal mussten sich vor fast 50 Jahren 14 ehemalige Angehörige eines Polizeibataillons vor Gericht verantworten, weil sie im Sommer 1941 während des Überfalls von Nazi-Deutschland auf Russland in der polnischen Stadt Bialystok an der Ermordung von mehr als 1000 Juden beteiligt gewesen waren.
Am historischen Ort des Bialystok-Prozesses lässt die Begegnungsstätte Alte Synagoge aus den Ermittlungs- und Prozessakten, aus Zeitungsberichten und historischen Dokumenten zitieren, um deutlich zu machen, wie junge Polizisten ein Rädchen in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis wurden, wie sie mit ihrer Tat umgehen und sich der Verantwortung stellen.
Für Michael Okroy, Kurator der Veranstaltungsreihe „Geschichte vor Gericht“, ist der helle Saal ein wichtiges Symbol, ein Zeichen dafür, dass das „Licht der Wahrheit und Gerechtigkeit“ auch mit Verzögerung auf dunkle Ereignisse fallen kann. An diesem Abend geht es um die Rekonstruktion eines Massenmordes und die juristische Aufarbeitung im Deutschland der 60er Jahre, um die Frage, wie „normale Menschen“ zu Mördern werden können und nicht davor zurückscheuen, hilflose Menschen zu erschießen oder sie in eine Synagoge zu treiben und das Gebäude anzustecken.
Um die Spurensuche zu erleichtern, setzen die Veranstalter nicht auf einen wissenschaftlichen Vortrag, sondern auf eine Lesung historischer Quellen: Der Schauspieler Gregor Henze gibt den Tätern eine Stimme, liest aus Postkarten oder Vernehmungsprotokollen, die Staatsanwältin Andrea Knorr zitiert aus den juristischen Akten.
Beide haben an einem langen tresenartigen Tisch an der Front des Saals Platz genommen, Okroy sitzt zwischen ihnen und moderiert. Während Henze mit seiner Lesung die Gefühlslage der Täter zumindest ansatzweise nachzustellen vermag, spricht aus den Ausführungen Knorrs die nüchterne Stimme der ermittelnden Justiz.
In den Einlassungen der Täter gibt es wenig Schuldbewusstsein, eher den Willen zum Vergessen und Vertuschen. Die Justiz braucht die Distanz zu den Taten und muss auch versuchen, sich in die Tatverdächtigen hineinzudenken, um die Frage nach Schuld und Sühne zu beantworten.
Über das historische Setting informiert Okroy: Ende der 1950er Jahre waren die Ermittlungen gegen die Männer ins Rollen gekommen. Einer der Hauptangeklagten stammte aus Wuppertal, deswegen wurde der Prozess hier angesetzt. Wegen der großen Zahl der Angeklagten wurde das Polizeipräsidium als Gerichtsort ausgewählt.
Das Verfahren begann im Oktober 1967 und endete im März des folgenden Jahres. Der Prozess fand ein großes Medieninteresse. Zunächst war Anklage gegen 14 Männer erhoben worden, ein Verfahren wurde aus Gesundheitsgründen abgetrennt, einer der Hauptangeklagten nahm sich in der Untersuchungshaft das Leben. Am Ende wurden Urteile gegen noch zwölf Angeklagte verkündet.
Drei Männer wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, drei weitere freigesprochen, die übrigen wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Wegen eines Formfehlers hob der Bundesgerichtshof die Urteile 1973 allerdings wieder auf. In einer zweiten Verhandlung wurden dann deutlich mildere Strafen verkündet.
Als Angehörige des Polizeibataillons 309 hatten die Angeklagten eigentlich keinen Kampfauftrag, nach Ansicht der Justiz hatten sie die Verbrechen folglich nicht auf Befehl, sondern aus eigener Initiative begangen.
Die Gründe dafür bleiben auch bei der jetzt angesetzten Verlesung der Quellen unklar. Das liegt zum einen daran, dass die Beschuldigten versucht haben, ihre Tatbeteiligung kleinzureden oder schlicht zu leugnen, zudem fehlte bei den meisten die Bereitschaft, sich der Tat zu stellen. Da wurde sich in Postkarten rührend daran erinnert, wie schön es doch damals an der Front war, als man das „Pfannkuchenlied“ sang.
Als Grund für die Taten wurde oft auf „die ideologische Ausrichtung“ dieses oder jenes Tatverdächtigen verwiesen. Ein Angeklagter begründete das Fehlen von Skrupel und Mitgefühl gegenüber den Ermittlern damit, dass man „für derartige Gefühlsregungen keinen Raum“ gehabt habe. Die „Banalität des Bösen“, wie sie Hannah Arendt einst nach dem Besuch des Eichmann-Prozesses bezeichnet hatte, wird da greifbar.