Was glauben Sie denn? Ein jüdischer Blick auf die Zeit

Wuppertal · In der Mitte der Tora, genau in der Mitte des 3. Buches Mose geht es um die Heiligung des Lebens. Es geht um die Heiligung des Menschen in Raum und Zeit.

Ruth Yael Tutzinger.

Foto: Anna Schwartz/ANNA SCHWARTZ

Der vor einigen Jahren verstorbene Oberrabbiner von Britannien, Sir Jonathan Sacks, sein Andenken sei zum Segen, hat unter anderem einen Artikel geschrieben zur „Dualität der jüdischen Zeit“. Daraus möchte ich einige Gedanken mit Ihnen teilen.

Wir alle leben ganz selbstverständlich in Raum und Zeit. Mal empfinden wir die Zeit als gut, mal als schlecht, mal vergeht sie zu langsam, dann wieder zu schnell. Doch hier geht es um die jüdische Sicht auf die Zeit, die natürlich mit Gott zu tun und einen religiösen Aspekt hat. Am Ende der Schöpfung schenkte Gott uns Menschen den Schabbat und er heiligte ihn und trug uns auf, diesen Tag in Ruhe und Freude zu heiligen. Dies war der Beginn der Heiligung der Zeit. Sie gehörte noch zum Schöpfungswerk Gottes. Danach ging die Verantwortung an den Menschen über. Noch vor der Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten, wies Gott die Israeliten durch Mosche und Aharon an, einen Kalender festzulegen. „Der Nissan sei euch der erste Monat.“ (2.M. 12,2). Damit sollte diese Befreiung nie in Vergessenheit geraten. Und Juden erinnern sich zu Pessach bis heute, als seien sie selbst befreit worden. Dieser Kalender entwickelte sich entlang der Ereignisse, für die er wesentlich ist.

Aber er entwickelte sich schon in Richtung Dualität. Christen führen einen Sonnenkalender, Muslime einen Mondkalender. Da aber die jüdischen Feste immer in die gleiche Jahreszeit fallen sollen, fügte man dem ursprünglichen Mondkalender einige Elemente des Sonnenkalenders hinzu. Eigentlich begann es schon mit der Tageseinteilung. Im Schöpfungsbericht heißt es: „...es ward Abend, es ward Morgen, ein Tag.“ Also schloss man daraus, dass der Tag am Abend beginnt. Aber der Dienst für Gott beginnt am Morgen, da nach der Überlieferung Abraham das Morgengebet entwickelte. Auch hier haben wir also eine Zweiteilung.

Lassen Sie mich auf den Kalender zurückkommen. Wir begnügen uns nicht etwa mit zwei Jahresanfängen, nein, wir haben gleich vier. Am 1. Elul ist das Neujahr für das Verzehnten des Viehs. Es ist ein Steuertermin. Am 15. Schwat, „Tubischwat“ ist das Neujahr der Bäume, eigentlich auch ein Steuertermin für die Baumfrüchte, der später zu einem Frühlingsfest umgestaltet wurde. Die wirklich wichtigen Neujahrstermine sind der Monat Nissan mit Pessach und der 1. Tischri, den man später „Rosh HaShanah“, Haupt des Jahres nannte, obwohl die Bibel von einem Tag des Gerichts spricht und man an diesem Tag die ganze Schöpfung feiert. Damit wären wir wieder bei der Zweiteilung. Der Monat Tischri ist ein Monat voller sehr ernster und auch sehr fröhlicher Feiertage.

Wie ich schon sagte, wurde der Schabbat von Gott geheiligt und den Menschen zum Geschenk gemacht, natürlich mit dem Wunsch, dass auch sie ihn heilig halten. Die Feiertage aber sollen die Menschen heiligen und somit auch Gott etwas zurückgeben. Auch wenn sie selbst dabei am meisten gewinnen. Die Feste haben ebenfalls einen doppelten Zyklus. Pessach, die Befreiung, Schavuot, die Gabe der Weisungen, Sukkot, das Laubhüttenfest, stehen für historische Schlüsselmomente.

Der zweite Zyklus wird von der Zahl 7 beherrscht. Der 7. Tag ist der Schabbat, der 7. Monat ist Tischri, der Monat mit den vielen Festen, das 7. Jahr ist das Schmitta-Jahr, an dem die Landwirte die Felder nicht bestellen dürfen, damit die Böden ruhen können. Sie müssen die Ernte des 6. Jahres eben etwas strecken. Nach sieben mal sieben Jahren beginnt das Jovel-Jahr. In diesem Jahr soll man sich klar machen, dass aller Besitz eine Leihgabe Gottes ist. Sklaven werden in die Freiheit entlassen und aller Besitz wird zurückgegeben. Es ist ein kompliziertes Prozedere, das ich hier nicht in Einzelheiten erläutern kann. Wichtig ist, dass man sich bewusst macht, dass man Gast auf Gottes Erde ist.

Auch Priester und Prophet haben ein unterschiedliches Zeitbewusstsein. Die Priester standen und stehen für den Tempelkult. Die Propheten waren die ersten Menschen in der Geschichte, die Gott im Geschichtsverlauf erkannten und die die Zeit selbst als Ort der Begegnung zwischen Gott und Mensch betrachteten. Alle anderen Religionen und Zivilisationen vor und nach ihnen haben Gott, Wirklichkeit und Wahrheit mit Zeitlosigkeit gleichgesetzt. (Zitat J.Sacks).

Viele Philosophen suchen bis heute den Punkt, von dem aus man die Wahrheit in ihrer ganzen Objektivität erkennen kann. Das Judentum sagt, dass es diesen Punkt nicht gibt. Die Realität ist komplizierter. Wir brauchen mindestens zwei Perspektiven, um die Wirklichkeit dreidimensional erfassen zu können. Dies gilt für Zeit und Raum gleichermaßen.

Dieses war ein kleiner Ausflug in das jüdische Zeitverständnis. Im profanen Leben richten wir uns natürlich auch nach dem üblichen Kalender. Doch jede Religion hat auch ihren liturgischen Kalender. Vielleicht können die Muslime mit ihren öffentlichen Feiern zum Ramadan ein wenig dazu beitragen, dass sich auch die anderen Religionsgemeinschaften wieder an ihre religiösen Wurzeln erinnern.