Premiere in Wuppertal Auf dem Schiff durch die Zeiten

Wuppertal · Im Schauspiel „Atlas“ suchen die Großmutter, die einst aus Vietnam floh, ihre Tochter und ihre Enkelin ihren Platz in der Welt.

Auf einem Schiffsrumpf treffen sich die Figuren.

Foto: Wuppertaler Bühnen/Uwe Schinkel

Die Enkelin, die es eigentlich gar nicht geben sollte, ist auf der Suche. In Vietnam, dem Heimatland ihrer Eltern, möchte sie ihre Großmutter, die sie nie kennengelernt hat, treffen. Zwischen damals und heute pendelt sie. Das Schauspiel „Atlas“ von Thomas Köck, Jahrgang 1986, der für seine Theatertexte mehrfach ausgezeichnet wurde, spielt in drei Zeitebenen. Am Samstag hatte es im Theater am Engelsgarten Premiere.

Drei Generationen sind involviert, Großmutter, Mutter und Enkeltochter kreisen, jede für sich und doch miteinander verbunden umeinander. Ihre Biographien sind eingebettet in die historischen Ereignisse, ihre Migrationsgeschichte hat im momentanen Zeitgeschehen Aktualität. Die Thematik ist Ankommen und Dazugehören. Wer darf kommen, wer bleiben? Wer sind wir, wer die anderen und was ist ein Leben wert?

Delay (Verspätung, Zeitverlust) ein Wort, das in der Aufführung immer wieder aufgegriffen wird. Auf dem internationalen Flughafen in Saigon ist die Enkelin (Julia Meier) gestrandet. Wegen eines Vulkanausbruchs geht kein Flieger mehr. Ihre Großmutter (Julia Wolff) floh 1975, zusammen mit ihrer Tochter (Philippine Pachl) vor dem Krieg.

Als Boat-Poeple gelangte sie, über die Insel Pulau Bidong, in die Bundesrepublik. Auf ihrer dramatischen Flucht glaubt sie ihre Tochter nach dem Kentern des Bootes verloren. Doch diese überlebte und kommt als Vertragsarbeiterin in die DDR. Nahe beisammen sind Mutter und Tochter und doch getrennt.

Immer wieder springt die Handlung auf unterschiedliche Zeitebenen. Oft in Form eines Sprechchors wird die Lebensgeschichte der Protagonisten gezeichnet. Die Tochter wird in den 1980er Jahren verbotenerweise schwanger, bei vielen Vietnamesinnen damals ein Grund für die Ausweisung aus der DDR. Sie behält ihr Kind und taucht mit dem Vater, einem Dolmetscher (Thomas Braus) unter.

Zwei zentrale Begriffe des Stücks tauchen immer wieder auf: „Zeit“ und „Wir“. Sie spielen in der Inszenierung von Jenke Nordalm eine große Rolle. Wie aus der Zeit gefallen wirken die Akteure und sind doch an sie gebunden. In ihrer Migrationsbiografie begegnen sie sich auf einer Ebene in den verschiedenen Zeitzonen. Bringt die Zeit die Geschichte am Ende in Ordnung? Das Dokumentationsdrama zeigt in den biografischen Erzählungen die Suche nach dem „Wir-Gefühl“.

Die Figuren
sind verloren

In der Zeit des Mauerfalls bleibt die kleine Familie davon ausgeschlossen. Die Migranten gehören nicht mehr dazu. Verloren sind die Figuren, jede für sich. Die Mutter als Waisenkind sucht ihren Platz in der Welt, möchte Vermittlerin in den Zeitebenen sein und bleibt doch in ihrer Zeit allein, der Vater als Übersetzer zwischen den Welten.

In der Wendezeit lassen sie sich auf der Suche nach einem besseren Leben in Leipzig nieder, leben aber auch dort in einer Zwischenwelt, sie gehören, im Strudel der historischen Ereignisse, der sie erfasst, nicht dazu. Sie möchten ein „Wir“, bleiben aber außen vor. Die Großmutter, die die Fluchtgeschehnisse für immer mit sich trägt, die Enkelin als Pendlerin dazwischen.

Wer ist wichtig in der Zeit? Die Figuren schaffen sich durch ihren Sprechchor einen Resonanzraum, sie sprechen sich in die Geschichte hinein. Sie klagen an, erinnern sich, fragen wie mit einer Stimme. Sie sind eine Familie von Aus-der-Zeit-Gefallenen, begegnen sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und gehen doch aneinander vorbei. Und trotzdem gibt es Verbindendes und eine Gleichzeitigkeit zwischen Gestern und Heute, ein Einrichten in zeitlichen und räumlichen Zwischenräumen.

Weit auf das Meer lenkt das Hintergrundbild der Bühne den Blick, ein angedeuteter Schiffsrumpf als Agitationsfläche. Er wird multifunktional eingesetzt, ist bebilderter Treffpunkt, Projektionsfläche und Aussichtspunkt.