Ein Chor auf ungewöhnlichen Wegen
Vorfreude auf den 30. Juni: Das Ensemble amici del canto probt in der Friedhofskirche.
Wuppertal. Es ist kühl in der Friedhofskirche. Der Geruch von altem Gemäuer steigt in die Nase und es ist nichts weiter zu hören außer Stille. Dennis Hansel, Leiter des Chors amici del canto, steht vorne an seinem Pult, stimmt den ersten Ton an und gibt das Zeichen. Kein anderes ist in dem Gewölbe zu sehen — dann plötzlich ein zweiter Ton. Dieser wird erwidert und bekommt eine Antwort. Die Töne strömen nur so aus allen Ecken der Kirche.
Die Richtung ist nicht zuzuordnen, denn Töne erklingen ringsherum. Erst hört es sich geordnet an, dann scheint es wie ein großes Durcheinander von Tonlagen und Stimmen, am Schluss einen sich alle auf die Sekunde genau. „Es ist das schwerste Stück“, sagt Sängerin Ilka Polanz. Mit ihren Kollegen steht sie im Kreis auf der Empore der Kirche, so dass sie aus dem Zuhörerraum nicht zu sehen sind.
Insgesamt sieben Wochen lang proben die 30 Sänger, weil sie die Zuhörer am 30. Juni mit dem ersten Satz der „Kunst der Fugen“ von Johann Sebastian Bach verzaubern möchten. „Mittlerweile sind wir entspannt, das Stück läuft jetzt“, sagt Mitsängerin Karin Rocholl. Der Chor hat sich bewusst für eine bearbeitete Version entschieden. Dieter Schnebel, einst Professor für experimentelle Musik an der Hochschule der Künste in Berlin, bricht die ursprüngliche Fassung auf, indem er keine Musikinstrumente, sondern Sänger einsetzt, die die einzelnen Töne versetzt erklingen lassen. Polanz beschreibt den Effekt mit einem „Glockenchor“, Rocholl spricht von einem „Surround-Effekt.“ „Wir haben letzte Woche zum ersten Mal in der Kirche gesungen und es war eine echtes Erlebnis“, sagt Hansel. „ ,Die Kunst der Fugen’ als reinen Klavierabend zu hören, ist wirklich anstrengend.“
Die Chormitglieder wollen am 30. Juni nur so mit Höhepunkten auftrumpfen. Diesmal wird der A-capella-Chor von Musikern begleitet. Aber nicht von irgendwelchen, sondern von der Kammerphilharmonie Wuppertal unter der Leitung von Werner Dickel. „Unsere beiden Ensembles passen sehr gut zueinander“, sagt der Chorleiter. „Dickel mischt Profimusiker mit Musikern, die noch in der Ausbildung stecken. Bei uns ist es ja fast genauso, nur das Profis und Nichtprofis zusammen singen.“
Ein besonderes Kompliment ist für den Chor, dass sich Werner Dickel um eine Zusammenarbeit bemühte. Am kommenden Wochenende sollen dann der geballte Ehrgeiz und musikalische Leidenschaft in der Friedhofskirche entflammen. „Für uns ist es halt nicht nur ein Job — wie für so manchen Berufsmusiker.“
Die Sänger stellen sich immer größeren Aufgaben und sehen jedes Experiment als Herausforderung. So ist auch ihr Konzertprogramm sehr abwechslungsreich. Es vereint Haydns „Missa in angustiis“ (Nelsonmesse), Bachs „Kunst der Fugen“, Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel mit einem Stück zwischen Barock und Wiener Klassik, Schnebel und den Komponisten der Moderne, Avo Pärt, mit dem Stück „Fatres“.
„Der Bogen ist total spannend“, sagt Hansel. Er freut sich schon auf die Reaktion des Publikums. Bewusst streut der Chor moderne Musik in das Programm, die für die meisten Hörer noch sehr ungewohnt klingt.
Chorleiter und Dirigent Dennis Hansel verfolgt mit seinen Sängern ein klares Ziel: Die Zuhörer sollen durch das gemischte Repertoire erkennen, aus welchem Grund in den verschiedene Zeiten Musik gemacht wurde. Seine Antwort: „Sie thematisieren alle das Geistliche. Ob es nun Gott ist oder das allgemein Menschliche, unterscheidet sich in den Zeiten. In allen Stücken findet man aber die Urbasis, auf der wir Menschen stehen.“