Pina Bausch lebt weiter – in ihren Stücken
Erster Saisonstart ohne die Prinzipalin: Im Opernhaus wurden am Donnerstagabend Erinnerungen wach.
Wuppertal. Pina Bausch ist tot, aber in der Erinnerung lebt sie weiter. Denn da, wo Gefühle im Spiel sind, zeigt sie auch das Publikum: Viele tragen Schwarz, andere bewusst Buntes. Doch eines verbindet sie alle. Die 780 Zuschauer, die mit dem Wuppertaler Tanztheater in die neue Saison starten, sind sichtlich froh, dass es weitergeht, bedauern aber zugleich, was soeben beginnt: die erste Spielzeit ohne Pina Bausch.
Sie startet - wie könnte es anders sein - vor ausverkauftem Haus. Unter den Gästen in der Oper sind Lokalpatrioten und internationale Fans, Erst-Seher genauso wie Viel-Bucher. Wer noch keinen Einlass-Schein hat, steht mit einem Schild ("Suche Karte") vor der Tür. Wer bereits im Saal ist, teilt mit Sitznachbarn seine ganz persönlichen Erinnerungen an die Stücke der Choreographin, die Ende Juni einem Krebsleiden erlegen ist.
Gespannte Erwartung am Anfang, stehende Ovationen zum Schluss - es ist es wie immer und doch ganz anders. Viele wissen, andere ahnen, was kommt: ein Doppelabend, der bewegt, bedrückt und beglückt. Wie eng Trauer und Zuversicht verbunden sein können, zeigen "Café Müller" und "Das Frühlingsopfer". Zwei Stücke, die die Grenzen menschlicher Kräfte vor Augen führen - und trotzdem nicht unterschiedlicher sein könnten.
Als die Saisoneröffnung weit im Voraus geplant wurde, konnte niemand ahnen, dass das Werk über eine unendliche Erschöpfung das erste sein würde, das ohne Pina Bausch über die Bühne gehen sollte. Welche andere Choreographie könnte die Lücke, die die Gründerin des Tanztheaters hinterlässt, sichtbarer machen als ausgerechnet "Café Müller", in dem die Tanz-Ikone selbst eine Rolle hatte?
Statt Pina Bausch wird Helena Pikon zur suchenden Nachtwandlerin. Im weißen Hemdchen tastet sie sich durch den trüben, mit Stühlen vollgestellten Café-Saal - die Arme halb herabhängend, halb bittend nach vorne gestreckt.
Am Anfang räumt ihr Jean-Laurent Sasportes die Sitzmöbel noch aus dem Weg. Am Ende steht sie einsam auf der Bühne, bis die Dunkelheit sie verschluckt. Ein Zeichen düsterer Einsamkeit: "Café Müller" ist ein Treffpunkt für Figuren, die sich gegenseitig in die Arme fallen, aber aneinander abgleiten, die Nähe suchen, sich aber doch nicht festhalten können.
Ganz anders "Das Frühlingsopfer": 34 Jahre, nachdem die gewaltige rhythmische Kraft der Strawinsky-Musik den Tänzern erstmals alles abverlangt hat, wirbeln 33 Frauen und Männer erneut keinen Staub, sondern Erde auf. Die bedeckt erst den Boden, am Ende auch die verschwitzten Körper. Denn zwischen den Geschlechtern wirkt die (Natur-)Gewalt: Opferbereite Frauen und kraftstrotzende Männer tanzen voller Hingabe - bis fast zur Atemlosigkeit.
Auch wenn die Geschlechterrollen heute anachronistisch wirken: An diesem Abend sind alle ganz besonders ergriffen, Tänzer genauso wie Zuschauer. Denn die Frau, die sich all das ausgedacht hat, fehlt beim Schlussapplaus, lebt aber ganz offensichtlich weiter - in ihren Stücken.