Rutschpartie in der Manga-Welt

Langeweile im Opernhaus: „Leonce und Lena“ suchen in Barmen den Sinn des Lebens.

Wuppertal. „Welch unheimlicher Abend“, seufzt Jakob Walser als Leonce — und dürfte damit so manchem Premierengast heimlich aus der Seele gesprochen haben. So spiegelte der Text am Freitagabend wohl eher unfreiwillig die Realität: Was Regisseur Marcus Lobbes im Opernhaus aus „Leonce und Lena“ macht, ist unheimlich nichtssagend, unheimlich unverständlich — und stellenweise auch unheimlich langweilig.

Dabei geben sich die Wuppertaler Bühnen alle Mühe, modern, bunt und am Puls der Zeit zu sein. Im schrillen Manga-Stil prallen die poppig auf cool getrimmten Wesen aufeinander — Figuren, die Georg Büchner genüsslich mit einer übertrieben romantischen Sprache, aber extrem wenig Handlung gesegnet hat. Da bräuchte es schon einen gelungenen Regiestreich, um aus der anspruchsvollen Textvorlage ein wahres Lustspiel zu machen.

Doch genau das fehlt. Es ist kein Konzept zu erkennen, das durchgängig fesselt, nachhaltig Akzente setzt oder gar deutlich Farbe bekennt, indem es eine konkrete Aussage anböte — da kann die Verpackung noch so schillernd sein. Zwar gibt sich das Ensemble betont „up to date“, aber knallige Kostüme und eine ironisch-blühende Sprache allein reichen nicht aus, um Büchners satirische Gesellschaftskritik zeitgemäß auf die Spitze zu treiben.

Da hilft es auch nichts, dass die Figuren wiederholt mit dem eigenen Rollenverhalten kokettieren und kurz und knapp — auf Englisch — das folgende Theater ankündigen. So wird aus der „Szene“ die „Scene“ und aus dem „Akt“ der „Act“. Theater im Theater also — aber in diesem Fall geht das Augenzwinkern ins Leere. Es ist nicht abgedreht genug, um wirklich witzig zu sein, andererseits aber auch nicht poetisch genug, um ins Herz zu treffen.

Das Stück ist mehr Lese- als Bühnenspaß. Auch in Barmen muss man nicht gerade laut losprusten, wenn König Peter vom Reiche Popo (Marco Wohlwend) naiv-nüchtern sinniert („Der Mensch muss denken“). Weshalb er sich bis auf den Stringtanga ausziehen muss, ist schlichtweg nicht zu verstehen. Wobei es passenderweise genau darum geht: um Generationen, die sich gegenseitig nicht verstehen.

Nach einem Majestäten („König Lear“), der von seinen Kindern verstoßen wird, und einem ehrgeizigen Architekten („Baumeister Solness“), der so sehr um seine Pfründe besorgt ist, dass er jeden jüngeren Konkurrenten wegbeißt, widmet sich Lobbes zum Abschluss seiner Trilogie erneut dem Generationenkonflikt.

Doch seine Sicht auf die Geschichte von 1836, in der Büchner das sinnfreie und snobistische Adelsleben, aber auch die ausgebeuteten und ausgehungerten niederen Stände skizziert, ist weder wirklich komisch noch wirklich tragisch, nicht wahrhaft real, aber auch nicht buchstäblich märchenhaft. Was ist es dann? Eine Frage, die den Zuschauer pausenlos — rund 90 Minuten lang — beschäftigen kann. Eines zumindest ist nicht zu übersehen: Die Figuren sind kunterbunt, ihre Möbel hingegen weiß und steril. In einer angedeuteten Wohnung, die sich zunehmend als rutschiges Parkett erweist, verharren sie in aufgesetzten Attitüden — ein treffendes Bild, um Adelsdünkel, Standesdenken und Lethargie zu entlarven. Die Posen sind passend, aber auf Dauer ermüdend. Zumal die Schauspieler nicht allzu viele Facetten zeigen können.

Leonce (Jakob Walser) trägt nur einen Flügel — der Prinz, der flieht, weil er eine Prinzessin heiraten soll, die er nicht kennt, ist ein halber Held, der erst noch auf der Suche nach sich selbst ist. Hanna Werth (Prinzessin Lena) wiederum verstellt ihre Stimme wie eine kleine Göre — ihr Kostüm ist ein Mädchentraum in Rosa.

Immerhin: Ein bewegender Einfall ist die „fahrende“ Kulisse, die Pia Maria Mackert zum zentralen Mitspieler werden lässt. Die Bühne wird im Lauf des Abends immer steiler — was regelmäßige Theatergänger allerdings schon in anderen Inszenierungen gesehen haben dürften. Das schadet dem Aha-Effekt freilich nicht. Das Spannendste an dieser Inszenierung sind die Momente, in denen Möbel und Menschen unaufhaltsam nach unten rutschen.

Eine Bruchlandung legte das Team aus Publikumssicht aber nicht hin. Von den Premierengästen, darunter viele Künstler und Theaterkenner, gab es reichlich Applaus. Nicht nur Lehrer, die planen, die Schullektüre mit einem Theaterbesuch zu krönen, sollten jedoch wissen: Wer sich vorher nicht gründlich einliest, dürfte sich nachher fühlen wie eine Figur im Comic — mit einem großen Fragezeichen über dem Kopf. Womöglich spüren etliche Zuschauer am Ende auch, was Leonce an diesem „unheimlichen Abend“ an zentraler Stelle auf den Punkt bringt: „Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal.“