Bildung Ehemaliger Wuppertaler Lehrer Arne Ulbricht hat in Schweden auch mit Schülern zu tun, die Augenhöhe mit Distanzlosigkeit verwechseln

Wuppertal · „Bist du Deutscher oder Franzose?“

Ehemaliger Wuppertaler Lehrer Arne Ulbricht unterrichtet nun in Schweden.

Foto: Arne Ulbricht

„Gå ute!” Das heißt: Geh raus! Ich befinde mich gerade in einem Klassenraum einer mir unbekannten fünften Klasse. Da ich mehr als meine 70 Prozent arbeiten möchte, habe ich angeboten, als Vertretungslehrer eingesetzt werden zu können. (In Schweden muss man keine Vertretungen übernehmen.)

Allerdings frage ich mich, ob das eine gute Idee war. Denn ich bin nicht der, der zu einem nervenden Schüler „Gå ute!“ gesagt hat. Ein nervender Schüler hat das zu mir gesagt. Und er meint es ernst. Denn er ist beleidigt, weil ich ihm verboten habe, Fortnite zu spielen. Statt dem Schüler zu gehorchen, melde ich das Verhalten und erfahre später, dass den Eltern eine SMS geschickt worden ist.

Die Hierarchien hier sind so flach – und es duzen sich ja eh alle –  dass es an Respekt oft mangelt. Alles kommt hier auf „bra relation“ an. Auf ein „gutes Verhältnis“ zu den Schülern. Bin ich eigentlich ein Fan von. Aber hier führt das manchmal dazu, dass Zehnjährige in Camouflage-Jogginganzügen denken, sie könnten dich auf Augenhöhe behandeln. Ich bin auch schon mit „bror“ – Bruder – angesprochen worden.

Meine Schule liegt übrigens in dem für Bandenkriminalität berüchtigten Göteborger Stadtteil Biskopsgården. Vor allem hier sollte anders reagiert werden, wenn geschwänzt oder in einem solchen Tonfall mit Lehrkräften gesprochen wird. Weitere Beispiele? Gern: „Ich hab kein Bock mehr“, sagt Elissa, 7. Klasse, steht auf, öffnet (!) meinen Rucksack, nimmt ihr einkassiertes Handy und verschwindet. Konsequenzen? Keine. „Mit wem telefonierst du?“, frage ich Abdi, 9. Klasse – in der 9. Klasse sammele ich Handys nicht mehr ein. „Mit meiner Mama!“ „Das kannst du doch nicht in meinem Unterricht machen!“ „Ich telefoniere mit meiner Mama, wann ich will!“ Auch das gebe ich weiter.

Spürbare Konsequenzen gibt es allerdings nur bei Gewalt. Wer schlägt, wird nach Hause geschickt, und wenn es häufiger passiert, dann gibt es einen Schulverweis. Das geht tatsächlich so schnell, dass es zu Schlägereien praktisch nie kommt.

Genug geschimpft. Im Großen und Ganzen liebe ich seit zwei Schuljahren meinen Job, meine ultraengagierten Kolleginnen und Kollegen, die am Anfang mit mir Englisch gesprochen haben und mein jetzt oft holpriges Schwedisch weglächeln, und vor allem: fast alle meine Schülerinnen und Schüler!

Und sie sind es, die mir trotz allem Grund zur Hoffnung geben. Zum Beispiel habe ich einen Schüler, Bülent, der am Anfang notorisch zu spät kam. Irgendwann merkte ich: Der versteht aber Grammatik, und zwar sofort, und dann kann er sie. Auf Nachfrage erzählte ein Kollege, dass er in Mathe eine Klasse höher teilnehme, sonst sei er unterfordert. Der Junge ist das absolute Genie. Nachdem ich gegen ihn im Schach gewonnen habe, habe ich mich gefreut, als sei ich ein Schüler, der seinen Lehrer geschlagen hat.

In der Kantine sitzen Lehrer und Schüler gemeinsam am Tisch

Und meine zahlreichen Musliminnen aus Syrien, Afghanistan, der Türkei und Somalia: ein Traum. Selten habe ich so fröhliche, optimistische Teenager erlebt. Meine Syrerin Aya verbessert mich seit zwei Jahren mit Engelsgeduld, wenn ich mal wieder etwas falsch ausspreche. Die meisten von ihnen sind Schwedinnen. Sie sehen nur nicht so aus, wie man sich Teenager in Bullerbü vorstellt, die von Ikea zurückkommen.

Am lustigsten ist es in der Kantine, in Göteborg liebevoll Bamba genannt. Auch für uns Lehrkräfte kostet das Essen nichts. Aber nur, wenn wir alle gemeinsam am Tisch sitzen. „Arne, bist du jetzt Deutscher oder Franzose?“, bin ich nicht nur einmal am Tisch gefragt worden. Das Thema Herkunft ist ein Standardthema. Und schon entsteht ein Gespräch über die Heimatländer der Eltern, darüber, wie viele Sprachen wir können. Die meisten Schüler sprechen Schwedisch, die Sprache ihrer Eltern und wahnsinnig gutes Englisch – manchmal unterhalten sie sich am Tisch auf Englisch – und jetzt lernen sie bei mir Deutsch oder Französisch.

„Und was wollt ihr später werden?“ Ein Klassiker unter allen Schüler-Lehrer-Smalltalkfragen. In der Bamba haben wir Zeit darüber zu reden. Bülent möchte Ingenieur werden, meine Syrerin Aya Ärztin. Und ich bin mir sicher, dass sie es schaffen.