Vom Traum, eine ganz normale Wuppertaler Familie zu sein

Rund 800 Flüchtlinge leben derzeit in Wuppertal — Tendenz steigend. Die WZ hat eine serbische Familie im Wohnheim an der Hermannstraße besucht.

Wuppertal. Für Hans-Jürgen Lemmer ist die Sache klar: „Das ist der normale Lauf der Dinge. Wenn mehr Menschen zu uns kommen, steigen auch die Kosten. Wir haben extra zwei neue Übergangsheime hergerichtet“, sagt der Leiter des städtischen Amtes für Integration und Zuwanderung. Das Amt hat seinen Etat im Haushalt für die Unterbringung von Flüchtlingen von sieben auf zwölf Millionen Euro erhöht.

Durch die Konflikte in Afghanistan und im Irak, die Umwälzungen in Nordafrika, die weltweiten Bürgerkriege und Hungersnöte sowie die offenen EU-Grenzen nach Serbien und Mazedonien steigen die Zahlen nicht nur im bundesweiten Vergleich (plus 55 Prozent), sondern auch für Wuppertal. Derzeit leben rund 800 Flüchtlinge in der Stadt — etwa 150 mehr als noch vor einem Jahr.

Zwei dieser Flüchtlinge sind Naib und Lidia Saikovski. Wie so viele andere Bewohner der Übergangsheime in der Hermannstraße sind sie nicht freiwillig dort. Ursprünglich kommen die Saikovskis aus der serbischen Kleinstadt Bor, gelegen im Dreiländereck Serbien-Rumänien-Bulgarien.

Zwar lässt es sich dort grundsätzlich leben, im Gegensatz zu Lidia ist Naib aber Moslem und gehört der Volksgruppe der Roma an. Das missfiel Lidias Vater von Beginn an. Und da ihr Vater beste Verbindungen zu den Stadtoberen von Bor hat, tat er alles, um die Beziehung von Naib und Lidia zu torpedieren.

Das ist rein rechtlich zwar schwierig, weil es auch in Serbien von offizieller Seite keine Unterschiede zwischen den Volksgruppen geben darf, „in der Gesellschaft spürt man die Unterschiede aber schon“, sagt Naib — ruhig und sachlich. Von „Rassismus“ will er nicht reden. Amtsleiter Lemmer, seit 1981 in der Flüchtlingsarbeit, ist da eindeutiger: „Roma sind in allen Gesellschaften auf dem Balkan ganz unten angesiedelt.“

Naib Saikovski über das umfangreiche Arbeitsverbot für geduldete Flüchtlinge. Obwohl er bereits zehn Mal die Zusage für eine Arbeitsstelle hatte, musste der Arbeitgeber ihm am Ende absagen.

Spätestens als 1994 ihr gemeinsamer Sohn geboren wurde, hatte Lidias Vater genug gesehen. Er holte Tochter und Enkel aus der Wohnung der Saikovskis und versteckte sie in seinem Haus. Jahrelang schwelte der Streit, bis Naib alles auf eine Karte setzte, seine Frau und seinen Sohn befreite und nach Deutschland flüchtete.

Seit zwei Jahren leben sie nun auf 50 Quadratmetern in der Hermannstraße. Das Leben dort ist nicht einfach. Sie haben keine Arbeitserlaubnis, dürfen NRW nicht verlassen und müssen zu dritt mit 460 Euro im Monat auskommen. Dazu klappt in einem Mehrfamilienhaus mit 130 Bewohnern aus zehn Ländern nicht immer alles reibungslos.

Gerade nachts ist es sehr laut. „Niemand darf arbeiten. Also haben die Menschen einen anderen Tagesrhythmus“, drückt es Naib noch wohlwollend aus, bevor er ganz offen von „teilweise katastrophalen Zuständen“ spricht.

Doch Naib ist niemand, der sich grundsätzlich beschwert. Vielmehr begreift der 38-Jährige seinen Aufenthalt trotz aller Widrigkeiten als Chance. Der gelernte Schweißer möchte neu anfangen und brennt auf einen Job. „Ich möchte meine Familie selbstständig ernähren können, aber ich darf nicht.“ Zehn Mal war er sich bereits mit einem Arbeitgeber einig. Doch diese dürfen Geduldeten den Job nur dann geben, wenn es keinen Deutschen gibt, der auf dieselbe Stelle wartet.

Lemmer kennt die Problematik und hat nur einen Rat: „Weiter versuchen, vielleicht klappt es beim elften oder zwölften Mal.“

Dem Leiter des Amtes für Integration und Zuwanderung tut es in der Seele weh, dass Saikovski zur Untätigkeit verdammt ist. Denn Lemmer weiß genau, wie viel es den Flüchtlingen bedeutet, arbeiten zu gehen. Das hat nicht nur mit Geld zu tun, „es ist auch wichtig für den Tagesrhythmus, das Selbstwertgefühl und die Integration“. Selten habe Lemmer derart motivierte Menschen gesehen wie die Flüchtlinge. „Alle, die ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen haben, sind nun in der Arbeitswelt. Niemand belastet, wie gern behauptet wird, unser Sozialsystem.“

Grundsätzlich kann Lemmer die Kritik an der vermeintlich hohen Zahl an Flüchtlingen nicht verstehen: „Deutschland hat durch seine Geschichte eine besondere Verpflichtung. Nach 1945 mussten Deutsche aus den Ostgebieten fliehen und wurden hier aufgenommen. 1949 hat sich die Bundesrepublik das Asylrecht aufgrund der eigenen Erfahrungen ins Grundgesetz geschrieben. Und durch den Eintritt in die EU haben wir weitere Verpflichtungen übernommen.“

Außerdem: Was seien schon 50.000 Asylbewerber bei 80 Millionen Einwohnern? „Der Skandal sind nicht die Flüchtlinge, sondern die Finanzierung. Das sollte Länder-, nicht Städtesache sein.“ Auch die Saikovskis möchten niemandem zur Last fallen. Ihr Traum: „Wir möchten eine ganz normale Wuppertaler Familie sein, die in Freiheit lebt, arbeiten geht und sich hier wohl fühlt.“