Das erste europäische Hörspiel wurde am 15. Januar 1924 von der BBC ausgestrahlt. Das erste bekannte deutsche Hörspiel ging am 24. Oktober 1924 unter dem Titel „Zauberei auf dem Sender“ über den Äther. Worum ging es da?
Interview Vor 100 Jahren: Wuppertaler Professor Wolfgang Lukas über die Premiere des Hörspiel im Radio
Wuppertal · Am 15. Januar 1924 lief das erste deutsche Hörspiel „Zauberei auf dem Sender“.
Wolfgang Lukas, Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Editionswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal, spricht über das erste deutsche Hörspiel „Zauberei auf dem Sender“
Wolfgang Lukas: In „Zauberei auf dem Sender“ von Hans Flesch wurden Störungen im Rundfunk inszeniert, das heißt, da kamen scheinbar zufällig Personen herein, eine Märchentante wollte ein Märchen erzählen, also alles so Dinge, die eigentlich nicht für das Publikum gedacht waren, die mit Absicht als versehentlich inszeniert worden waren. Da hat man mit der Verunsicherung des Hörers gespielt, weil nie klar war, ob es nun dazugehört oder von hinter den Kulissen kam. Und das war der Trick, die Verunklarung der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Schließlich stellte sich heraus, dass das alles Machenschaften eines Zauberers waren, der im Stück beziehungsweise in der 1924 publizierten Textfassung – die ersten Hörspiele wurden ja noch nicht aufgezeichnet – Cagliostro genannt wird, mit Rekurs auf den berühmten Spieler und Abenteurer des 18. Jahrhunderts. Dieser Zauberer hatte Sendezeit gefordert, um akustische Zaubereien vorzuführen. Und da hat man ihn ausgelacht und gesagt: „Zaubereien müsse man doch sehen!“ Bis dahin gab es Zaubereien ja nur fürs Auge. Um es zu beweisen, hat er dann eben diese Störungen verursacht.
Was ist also das Besondere am Radiohörspiel?
Lukas: Das Besondere ist die Idee der rein akustischen Täuschung, also die zeichenhafte Abbildung der Realität allein mit akustischen Mitteln. Da habe ich dann nicht nur die Sprache, sondern auch die Musik und die Geräusche. Diese akustischen Wirkungen haben noch einmal einen anderen Status als das Optische/Visuelle.
Welche Themen sind denn am ehesten hörspieltauglich?
Lukas: Das ist sicherlich nicht absolut beantwortbar, denn eigentlich gibt es keine strikte Koppelung zwischen Medium, Genre und einem bestimmten Inhalt. Das ist zunächst ganz offen. Klar ist, dass so größere epische Formate wie zum Beispiel Romane sicherlich eher nicht geeignet sind. Da es mit Unmittelbarkeit verbunden wird, sind es immer wieder so kleine Momentaufnahmen. Es gibt eine signifikante Häufung von menschlichen Extremsituationen. Das geht eigentlich schon in der Literatur mit dem Inneren Monolog los. Beide Monolognovellen von Arthur Schnitzler etwa, Lieutenant Gustl (1900) und Fräulein Else (1924), bieten uns scheinbar unvermittelt die Gedanken von Figuren in deren letzten Stunden vor ihrem Tod. Das erste britische Hörspiel Danger macht etwas Ähnliches. Da sind drei Menschen in einem Bergwerk verunglückt und die müssen sich auf den Tod gefasst machen. Sie werden am Ende zwar gerettet, aber das Hörspiel fängt Figuren in einer Extremsituation ein und ist ganz nah dran. Dazu findet das Hörspiel in der Fiktion im Bergwerk, also in der völligen Dunkelheit statt. Bis auf den heutigen Tag legen Hörspiele gerne den Fokus auf solche existenziellen Extremsituationen.
Zu einem handfesten Skandal und Panik in der Bevölkerung kam es 1938 durch das Hörspiel „Krieg der Welten“ nach H.G. Wells in New York. Was war geschehen?
Lukas: Die Macher des Hörspiels haben wieder mit dem Phänomen der Authentizität gespielt. Dieser Roman von Wells von 1898 beinhaltet einen Angriff der Marsmenschen auf die Erde, der nur durch Bakterien verhindert werden kann. Orson Welles schrieb mit seinem Kompagnon eine Hörspieladaption und erzielte damit seinen künstlerischen Durchbruch. Es geht darum, dass das Hörspiel, sehr viel mehr als der Film, absolute Authentizität verheißt. Außerdem muss man sagen, die Menschen waren in den 1930er-Jahren zwar das Radio gewöhnt, aber es gab nicht nur Hörspiele, sondern vor allem auch Nachrichten. Das Radio war zunächst einmal das Medium für das Dokumentarische. Da wird über Reales berichtet und dann kam dieses Hörspiel und löste Panik aus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das Hörspiel noch einmal einen Boom. Woran lag das?
Lukas: Dieser Boom hat sich eigentlich bis zum Beginn des Fernsehens fortgesetzt. Das hat sich dann aber erst in den 60er-Jahren als neues Massenmedium durchgesetzt. In den 40er- und 50er-Jahren ist das Radio noch vorherrschend.
Bis heute ist Deutschland wegen seiner föderalen Rundfunkstruktur das Land, in dem die meisten Hörspiele produziert werden. Zu den erfolgreichsten zählt die Serie „Die drei ???“. Welchem Genre lauschen Sie in Ihrer Freizeit?
Lukas: Ich höre relativ regelmäßig die abendliche Hörspielreihe im Deutschlandfunk. Aktuell beschäftige ich mich mit dem O-Ton-Hörspiel der 70er-Jahre, speziell mit Paul Wühr, einem Schriftsteller der experimentellen Gegenwartsliteratur, der zahlreiche Hörspiele verfasst hat und aus dessen Teilnachlass, der an der Universität aufbewahrt wird, ich im Rahmen einer kleinen Ausstellung beim diesjährigen Jubiläums-Hörspielfestival an der Berliner Akademie der Künste zusammen mit einer Doktorandin und einem Doktoranden einige Archivstücke zeigen kann.