Gesellschaft Wohnungslosigkeit wird in Wuppertal immer sichtbarer

Wuppertal · Hoher Beratungsbedarf bei der Diakonie, starker Zulauf bei den Unterkünften, zu wenig sozial geförderter Wohnraum.

Eine Frau sucht in einem Mülleimer nach Leergut. In Wuppertal haben immer mehr Menschen keine Wohnung.

Foto: dpa/Sebastian Kahnert

In Wuppertal sind immer mehr Menschen wohnungslos. Was oft durch Obdachlose sichtbar wird, die ihr Lager vorübergehend an der B7, am Wupperufer, am Kasinokreisel in Elberfeld oder in Geschäftseingängen etwa in Oberbarmen aufschlagen, ist weitaus präsenter in den sozialen Einrichtungen, die die Stadt unterhält.

In diesem Jahr wurden zum Stichtag 31. Januar 2024 in Wuppertal 1720 Personen als wohnungslos erfasst. „Davon waren 1503 Personen durch die Stadt untergebracht, die als Geflüchtete in Deutschland anerkannt, aber noch über die Kommune untergebracht sind, bis sie eine eigene Wohnung finden können“, erklärt Juliane Steinhard, Sozialarbeiterin und bei der Stadt für die Wohnungslosenplanung zuständig. Davon wiederum waren 390 Personen ukrainischer Staatsangehörigkeit.

Nicht jeder Obdachlose geht mit dem Klischee einher

Marcel Gabriel-Simon, sozialpolitischer Sprecher der Grünen, kann diesen Eindruck bestätigen: „Im Stadtbild trifft man stärker denn je auf Menschen, die in Hauseingängen schlafen oder beispielsweise am Von-der-Heydt-Platz vor C&A sitzen.“ Vieles passiere aber auch verdeckt. „Es gibt Obdachlose, die ganz bewusst stille Orte außerhalb der Innenstadt suchen, weil ihre Situation auch mit Scham einhergeht.“ Wobei Marcel Gabriel-Simon betont: „Nicht jeder Obdachlose geht mit dem Klischee einher, in zerschlissener Kleidung und übel riechend durch die Stadt zu laufen.“ Er sei einmal mit den Streetworkern der Diakonie mitgegangen „und da musste auch ich mein Bild revidieren: Obdachlosigkeit ist von Vielfalt geprägt.“

Am eindeutigsten ist der Anstieg der Wohnungslosigkeit daher auch mit Zahlen der Beratungsstelle der Diakonie zu veranschaulichen. Dort werden alle Menschen beraten, die wohnungslos sind. Hier sei es in den vergangenen zehn Jahren zu einem Anstieg der Beratungszahlen um etwa 50 Prozent gekommen. „Die Personen, die dort eine Postadresse haben, um zum Beispiel behördliche Post zu empfangen, ist zwischen 2014 und 2023 von 1072 auf 2156 Postadressen gestiegen“, sagt Sozialarbeiterin Juliane Steinhard.

Auch die Anzahl der Unterbringungen in Obdachlosenunterkünften der Stadt sei in diesem Zeitraum stark gestiegen. „Hier kam es sogar zu einer Verdreifachung – von 7100 Übernachtungen auf rund 23 300.“ Hinzu komme, „dass die Menschen länger dort verbleiben, weil es sehr schwierig geworden ist, günstige kleine Wohnungen für Einzelpersonen zu finden.“ Auch größere Wohnungen für Familien mit drei oder mehr Kindern werden gesucht.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hatte kürzlich an die Bundesregierung appelliert, zügig Maßnahmen des nationalen Aktionsplans gegen Wohnungslosigkeit umzusetzen. Das Statistische Bundesamt habe einen neuen Höchststand bei der Zahl untergebrachter wohnungsloser Menschen in Deutschland erfasst. Danach hat sich die Zahl der Menschen, die entweder durch die Kommunen oder in Einrichtungen der freiverbandlichen Wohnungsnotfallhilfe untergebracht waren, gegenüber dem Vorjahr um 18 Prozent auf 439 500 erhöht. Dabei seien Menschen, die bei Familienmitgliedern, Freunden oder Bekannten unterkommen oder in Wohnwagen oder Kleingartenparzellen wohnen, gar nicht erfasst.

Wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe kritisiert, könne „nicht genug bezahlbarer und bedarfsgerechter Wohnraum bereitgestellt werden“. Wohnungen im höheren Preissegment seien in Wuppertal verfügbar, aber in diesem Fall kaum zu finanzieren, weiß Steinhard.

Neues Projekt: Zuerst ein Zuhause, dann psychische Hilfe

Um Abhilfe bei der Wohnungsnot zu schaffen, realisiert die Stadt mehrere Projekte: Dazu gehört unter anderem „Wow“ zur Wohnraumvermittlung und Begleitung für obdachlose und wohnungslose Menschen in Wuppertal. „Wer Wohnungen zur Vermietung anbieten möchte, kann sich an die Wohnungsvermittlung der Diakonie wenden“, sagt Steinhard. „Wir möchten jede Wohnung, die gerettet werden kann, als solche nutzen können. Natürlich muss sie sich in einem guten Zustand befinden, etwa in Bezug auf Heizung und Sanitäranlagen, und dauerhaft bewohnbar sein.“

Neu hinzugekommen ist das Projekt „Housing first“, übersetzt „erst ein Zuhause“. Es startete vergangene Woche, die Projektphase läuft bis Dezember 2025. Das Konzept werde bereits etwa in Finnland und in den USA umgesetzt, erklärt die Sozialarbeiterin. „Dabei müssen Wohnungslose, die auf der Straße leben, nicht erst beweisen, dass sie wieder fähig sind, eine Wohnung zu beziehen. Bisher ist es so, dass zuerst die vordringlichen Probleme bearbeitet werden, um erst danach eine Wohnung bereitzustellen.“ Diese Probleme beziehen sich zum Beispiel auf Suchterkrankungen, psychische Beschwerden, fehlende soziale Beziehungen nach einer Haftentlassung, aber auch Verschuldung.

Hinzu komme, dass viele Bedürftige mit zunehmenden Pflegebedarf versehen seien. „Damit sind nicht nur über 70- oder über 80-Jährige gemeint“, die es auch unter den Wohnungslosen gebe, „sondern Menschen, die lange auf der Straße gelebt haben, weisen Gebrechen auf, die für ihr Alter nicht typisch sind, das Leben auf der Straße hat aber ihre Kräfte aufgezehrt“.

In dem Projekt werde jedoch nach Möglichkeit erst eine Wohnung zur Verfügung gestellt, um wieder einen eigenen Schutzraum zu haben und erst dann beraten, in welchem Umfang sie Hilfe benötigen. Ein erster Schritt ist dabei, finanzielle Verfügbarkeit herzustellen, um eine Wohnung auch bezahlen zu können. „Da hilft zu Beginn zum Beispiel das Bürgergeld oder das Sozialamt.“