Politikwissenschaftler der Uni Wuppertal klärt auf Wie Aufbruchsstimmung Wahlen beeinflusst

Analyse | Wuppertal · Junge Menschen wählen anders als alte – woran das liegt? Ein Politikwissenschaftler der Uni in Wuppertal erklärt es.

Wo Wähler ihr Kreuzchen setzen – das kann nach Alter und Zugehörigkeitsgefühl komplett verscheiden sein.

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Zwar steht für die Wuppertaler in diesem Jahr keine Wahl mehr an, doch ist das Superwahljahr noch lange nicht beendet. Gerade erst lag der Fokus auf den Parlamentswahlen in Frankreich, bei denen ein großer Rechtsruck befürchtet wurde. Und alle Augen sind derzeit auf den US-Wahlkampf zwischen Donald Trump und Kamals Harris gerichtet. Bei der diesjährigen Europawahl im Juni haben vor allem junge Menschen anders gewählt als noch im Jahr 2019 – so verloren die Grünen viele Wählerstimmen bei der Gruppe der 16- bis 24-Jährigen, die AfD und die Union gewannen hingegen Stimmen dazu. Detlef Sack, Politikwissenschaftler an der Bergischen Universität, ordnet das ein.

Er spricht von einer neuen Themenkonjunktur, die junge Wähler beschäftigt. „Die Europawahl hat gezeigt, dass es weg geht von Klima- und Umweltschutzthemen hin zu harten Wirtschaftsthemen wie Inflation und Wirtschaftskrise“, sagt er. Auch die Themen irreguläre Migration und Einwanderung würden junge Menschen beschäftigen.

In Frankreich hätten die Wahlen dazu geführt, dass die Angst vor rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien einen Mobilisierungseffekt hatte. Das Linksbündnis wurde wider Erwarten stärkste Kraft. In Deutschland gebe es die Wähler, die auf jeden Fall die AfD wählen, egal, wie sie vom Verfassungsschutz eingestuft wird, erklärt Detlef Sack. Die anderen Wähler wählen demokratisch. Demokratisch steht in diesem Fall gegen rechtspopulistisch, muss aber differenziert betrachtet werden. So gibt es diejenigen, die sich für Wirtschaftspolitik interessieren, diejenigen, die sich den Umwelt- und Klimaschutzthemen verschrieben haben und die diejenigen, die Angst hätten vor sozialer Polarisierung.

Das Geheimtreffen in Potsdam zur Remigration von Migranten hat zu Beginn des Jahres viele Menschen auf die Straßen getrieben, um gegen Rechts zu demonstrieren. „Das war eine Mobilisierung, die dazu führt, dass sich die Menschen bewusst für demokratische Parteien entscheiden“, sagt Sack. Entscheidend sei dabei die Bündnisfähigkeit der Parteien untereinander. „Das ist die große Herausforderung an die Politik und die große Enttäuschung mit der Politik“, sagt Detlef Sack.

Immer wieder steht beispielsweise die Ampel-Koalition in der Kritik. „Sie haben eine Konstellation, die Luft lässt für die Zukunft. Aber die deutsche Erfahrung ist, dass diese Konstellation nicht gut gemacht worden ist“, so Sack. Konflikte seien nicht gut bearbeitet worden, es habe eher eine Art Idealisierung stattgefunden. „Nehmen wir das Stichwort Schuldenbremse. Man könnte entspannt damit umgehen, stattdessen wird sie aber hoch auf die Tagesordnung gesetzt, um am Wählerstimmenmarkt zu punkten.“

Ein Bild
gesellschaftlichen Aufbruchs

Blickt man in die USA, gibt es dort entscheidende Unterschiede. „Die Situation ist mit unserer in Deutschland nicht vergleichbar, weil es in den USA ein Zwei-Parteien-System gibt“, erklärt Detlef Sack. Die Demokraten treten gegen die Republikaner an. „In Deutschland können Sie unterschiedliche Wählervorlieben ganz anders artikulieren als in den USA – sowohl als jüngerer, als auch als älterer Mensch“, weiß der Politikwissenschaftler. Vergleichbarer sei hingegen ein Punkt: „Es ist interessant, dass Sie innerhalb von zwei Wochen eine Situation haben, in der nicht mehr über zwei eitle Männer gesprochen wird, sondern über gesellschaftlichen Aufbruch“, sagt Sack.

Trump habe den Wahlkampf auf keinen Fall verloren, noch immer seien die Umfrageergebnisse knapp. Aber die Dynamik habe sich verändert, die Situation vermittelt Aufbruch, eine Art Hoffnungsmoment. „Das ist etwas, auf das junge Wähler ansprechen“, weiß Detlef Sack und spricht von einem „Harris-Effekt.“ Etwas Vergleichbares habe nur Martin Schulz (SPD) geschafft, der 2017 als Kanzlerkandidat antrat. „Er hat Begeisterung ausgelöst, konnte das aber nicht lange durchhalten.“

Junge Wähler, so fasst Detlef Sack zusammen, haben eine veränderte Themenkonjunktur gegenüber den Vorjahren. „Das ist auch ein Corona- und Wirtschaftskriseneffekt. Aber die jungen Menschen haben keine Lust mehr, ständig über Krisen zu reden.“ Wähler im Allgemeinen würden zudem nicht entlang bestimmter Themen ihre Stimme abgeben, sondern bestimmte Verhaltensmuster und bestimmte soziale Zuordnungen wählen. „Sie spüren sehr genau, aus welcher sozialen Gruppe der Kandidat kommt. Sie wählen nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Bauch und dem Herzen“, so Sack.

Soziale Zugehörigkeit wird beispielsweise über Kleidung vermittelt. „Entspricht mir die Kleidung, die ein Kandidat einer bestimmten Partei trägt, oder entspricht sie mir nicht? Das ist keine Abwägung, ob mir die Person bei der Wirtschaftskrise hilft. Das ist ein Dresscode.“ So entspricht Kamala Harris‘ Kleidung ihrem Stand als Staatsanwältin. Ihr Vize-Kandidat Tim Walz trage oft funktionale Kleidung – das Bild einen Pack-an-Typen entsteht. „Wir wissen, dass wir Personen eher mögen oder nicht mögen, wenn sie auf eine bestimmte Art und Weise reden. Dass das mitentscheidend ist für die Frage, wen ich wähle, ist den meisten Leuten nicht klar“, sagt Detlef Sack.

Doch warum wählen junge Menschen eigentlich anders als ältere? „Wir leben in einer demografisch alten Gesellschaft. Ein Großteil der Wähler will unbewusst erhalten, was ist“, sagt Sack. Viele hätten einen Großteil ihres Lebens hinter sich, bräuchten mitunter keine Zukunftsvisionen. Junge Menschen hätten ein anderes Verhältnis zu Politik. „Für sie geht es noch lange um etwas.“