Wuppertaler Auslese Die Kraft der Märchen: Wuppertaler Erzählerin Ingrid Reinhardt über Geschichten, die verbinden und heilen

Wuppertal · Erzählerin Ingrid Reinhardt war im WZ-Literaturpodcast zu Gast und sagt: Märchen offenbaren immer ein Stück der eigenen Seele.

Für sie sind Märchen Glück, deshalb heißt ihre Webseite auch „Märchenglück“: Ingrid Reinhardt liebt Geschichten und erzählt sie.

Für sie sind Märchen Glück, deshalb heißt ihre Webseite auch „Märchenglück“: Ingrid Reinhardt liebt Geschichten und erzählt sie.

Foto: Andreas Fischer

Für Ingrid Reinhardt ist die Welt der Märchen keine unüberwindbare Dornenhecke, sondern vielmehr ein Labyrinth voller Abenteuer, durch das sie ihre Zuhörer führt. Ursprünglich gelernte Reiseverkehrskauffrau arbeitet die Wuppertalerin seit 2005 als freiberufliche Erzählerin und ist Mitglied der Europäischen Märchengesellschaft. Sie gibt Märchenführungen im Vorwerk-Park, las unter anderem bei der Lit.Ronsdorf und bei Barmen Live und setzt Märchen auch bei der Sterbebegleitung ein, etwa im Christlichen Hospiz am Dönberg.

Als Reiseverkehrskauffrau war sie weltweit viel unterwegs, lernte verschiedene Kulturen kennen. „Das hat mir später sehr geholfen, einen Bezug zu den Märchen aus aller Welt herzustellen“, so die 73-Jährige im Podcast-Gespräch mit der Westdeutschen Zeitung. Etwa „Das Brokatbild“, das aus Tibet stammt und bei dem die Protagonistin all ihre Träume und Wünsche in ein Tuch hineinwebt.

Als sie ihren klassischen Beruf mit 50 Jahren aufgab und in die Kindererziehung ging, kam alsbald auch das Geschichtenerzählen hinzu. Sie absolvierte eine Ausbildung am Märchenzentrum „DornRosen“ in Nürnberg, ist ausgebildet in Klavier und Blockflöte, spielt Veeh-Harfe und fügt alles in ihren Veranstaltungen zusammen, schafft Bilder aus Wort und Klang. In der Ausbildung lernte sie neben praktischen Erzähltechniken auch, „wie man überhaupt den Schlüssel zu den Geschichten findet“ – mitsamt ihrer tiefen Symbolik, die zu entfalten eine Aufgabe ist. „Das ist auch eine psychische Arbeit.“

Warum ihr der Ansatz von „Hänsel und Gretel“ zu heftig ist

Wer Märchen hört, muss oft ganz schön stark sein. Und das nicht nur, um wie das tapfere Schneiderlein „sieben auf einen Streich zu erledigen“, sondern weil sie zum Teil mit einer Form der Brutalität arbeiten, die irritieren kann. Eine Hexe, die im Ofen verbrannt wird. Rumpelstilzchen, das sich in der Mitte entzweireißt. Der Wolf, der die Großmutter verschlingt. „Es gibt schon sehr heftige Märchen“, weiß Reinhardt, „Blaubart“ zum Beispiel, der seine Ehefrauen ermordet und in einer Kammer stapelt. Auch „Hänsel und Gretel“ könne sie nicht gut erzählen. Selbst ihre Mutter habe den Klassiker damals verweigert. „Sie hatte immer schreckliche Angst davor, wahrscheinlich war auch eine Übertragung auf mich als einziges Mädchen vorhanden.“ Verbundenheit, Verzweiflung, Verlust: „Wir wollen Morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen. Da machen wir ihnen ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus und wir sind sie los“, heißt es darin.

Doch dienen die Geschichten immer auch dazu, Licht- und Schattenseiten des Lebens aufzuarbeiten. „Was ist böse und was ist gut? Welche Wege gibt es? Und welche Hoffnung?“ Als Beispiel nennt die 73-Jährige Schneewittchens Flucht in den Wald.

Dort soll der Jäger sie töten. Die Situation lasse sich als Sinnbild übertragen: „Wann irre ich durch den Wald? Wann symbolisiert er einen Zustand, in dem ich den Überblick verliere, wenn zu vieles auf mich eindringt? Und wie reagiere ich darauf, wenn sich auf einmal ein Tor auftut, ein Häuschen mit vielen Gesellen, die Unterstützung leisten?“

Ein glückliches Ende ist ihr wichtig. Und die Möglichkeit, sich als Zuhörer währenddessen fallenzulassen. „Gemütlich hinsetzen, den Kopf ausschalten.“ Das gehöre zu den größten Schwierigkeiten der Menschen. „Wir sind verstandesmäßig erzogen. Aber Märchen gehen nicht vom Verstand aus, sondern von der Sinnhaftigkeit. Das heißt, die Synapsen müssen zum Bauchgefühl geknüpft werden.“ Besonders Kinder würden diese Fähigkeit noch besitzen. „Und deswegen stört sie das überhaupt nicht, wenn etwa die Hexe endlich verbrannt wird.“

200 Märchen zählen mittlerweile zu ihrem Repertoire – und Ingrid Reinhardt ist froh, wenn Eltern heutzutage zumindest einige wenige davon auch an ihre Kinder weitergeben. Denn mittlerweile ist häufig zu beobachten, dass sie ihren Kindern entweder das Smartphone in die Hand drücken oder gut vermarktete Lautsprecherboxen, sogenannte Tonies, neben das Bett stellen, die Hörspiele erzählen. Eine Studie stellte zudem kürzlich fest, dass bei den Schuleingangsuntersuchungen Sprachdefizite immer stärker geworden sind. Können Märchen helfen?

„Die Art der Erzählung spielt gar keine so große Rolle“, betont Reinhardt. „Das können auch Gute-Nacht-Geschichten sein.“ Wichtig sei: „Eltern müssen mit den Kindern reden. Es geht um die Atmosphäre. Und die Nähe. Dass sie sich anschauen. In die Augen. Nicht aufs Handy-Display.“ Und in einem zweiten Schritt um die Schönheit der Sprache, die auch Grimm‘sche Märchen besitzen. Die Moral, die den Geschichten innewohnt, komme dann als Bonus.

Letztlich würden Märchen die große Verbundenheit aller Menschen thematisieren. „Dieses Bewusstsein kommt heute durch die Kriege wieder zum Vorschein. Achtung zu haben vor anderen Menschen – unabhängig davon, aus welcher Kultur sie stammen.“

Mit Figuren, die ihren Herzensweg gehen. Und in den Herzen der Leser und Zuhörer eine Inspiration finden. In der Gegenwart. Denn der Satz „Es war einmal …“ ist immer nur der Anfang von allem.