Die Verachtung des Zuschauers

Medium in der Sinnkrise: Warum Marcel Reich-Ranickis Wut das Unbehagen der Deutschen trifft.

Düsseldorf. Der Verreißer hat verrissen, diesmal allerdings keinen Roman, sondern das Fernsehen in seiner Gesamtheit. Marcel Reich-Ranicki tat dies wie gewohnt in telegener Kürze und ranickischem Pathos.

Man könnte dem Literaturkritiker Doppelmoral vorwerfen, schließlich hat er seinen Ruhm der Eitelkeitsmaschine Fernsehen zu verdanken. Er hat sie befeuert mit seinen zugespitzten Thesen, die vor laufenden Kameras ohne Nuancen und Analysen auskommen. Er hat Literaturkritik in eine Show verwandelt.

Tatsächlich ist Reich-Ranickis Verhältnis zum Fernsehen gespalten: Das Massenmedium hat ihn prominenter gemacht als die meisten Autoren und Bücher, die er dort besprochen hat, aber zugleich hat es ihn vom Intellektuellen zum Bücher-Kasper degradiert.

Dieser Selbstekel veranlasste ihn dazu, den Deutschen Fernsehpreis nicht einmal mit spitzen Fingern anzurühren. Aber sein Wutausbruch trifft auch das diffuse Unbehagen der Deutschen an der Massenkultur des Westens, die bekanntlich zu Tode amüsieren kann.

Und er trifft das sehr konkrete Unbehagen der Menschen daran, dass die mit Rundfunkgebühren alimentierten öffentlich-rechtlichen Sender mit Blick auf die Quote Selbstdemontage betreiben. ARD und ZDF rennen den Privaten hinterher. Wer hat die rührseligste Telenovela? Die schrillste Casting-Klamotte? Die geilste Reality-Show? Das bombastischste Gaukelwerk?

Da spielt es keine Rolle, dass viele Shows in Industriehallen am Fließband entstehen, Sender dafür hunderte Statisten herankarren, die von morgens bis abends auf Signal applaudieren, während Fernsehmacher hinter den Kulissen von "Klatschvieh" sprechen. Der Zuschauer daheim erfährt den Fassadenschwindel im Auftrag der Quote nicht.

Dabei ist der Quotenzynismus der Privaten zwar nicht zu rechtfertigen, aber doch logisch: Die Statistik entscheidet über Werbegebühren, die Privaten bleiben nun einmal nicht der Demokratie, sondern dem Markt verpflichtet.

Bei den Öffentlich-Rechtlichen ist die Verachtung des Zuschauers in der Hauptsendezeit jedoch ein Skandal. Ein demokratisches System muss seine Bürger ernst nehmen; es muss ihnen Niveau und Kritikfähigkeit zutrauen, statt sie zu verdummen. Die öffentlich-rechtlichen Sender gehören zu unserer Demokratie, aber sie werden ihrem Auftrag nicht mehr gerecht.

Dabei gibt es durchaus Qualität: 3sat, Phönix, Arte und viele spätabendliche Beiträge von ARD und ZDF liefern Fernsehen auf höchstem Niveau, nur bleiben diesen Angeboten innerhalb des öffentlich-rechtlichen Systems lediglich Nischenplätze. Sie liefern Alibi-TV.

Das TV ist zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft, weil es die Mittelschicht, die immer noch die Mehrheit der Bevölkerung stellt, nicht mehr erreicht. Das Publikum geizt mit Lebenszeit, Freunde sind ihm wichtiger als Berieselungen aus der Glotze.

Gerade die Generation, die mit dem Dauerflimmern groß wurde, verbannt die Mattscheibe aus ihrem Dasein - Fernsehen erreicht die Jüngeren kaum noch. Sie laden sich ihre Inhalte aus dem Netz herunter, weil das TV für sie nicht mehr als Leitmedium taugt, zu wenig mit ihrem Leben zu tun hat.

Und Marcel Reich-Ranicki? Der blickt als 88-Jähriger mit Unbehagen auf seine TV-Karriere zurück. In seinen Memoiren schreibt er über das Literarische Quartett: "Gibt es im Quartett ordentliche Analysen literarischer Werke? Nein, niemals. Wird hier vereinfacht? Unentwegt. Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist ist sogar sehr oberflächlich."