Analyse: Kühne Vision, nüchterner Blick
Barack Obama fordert die Nation auf, die Ärmel hochzukrempeln. In der Krise macht er den Bürgern Mut.
Washington. Barack Obama hat seine erste Herausforderung als US-Präsident gemeistert. Vor Millionen begeisterter Menschen beschwor der erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten auf den Stufen des Kapitols die kühne Vision eines "neuen Amerika": Stark und optimistisch soll es sein, die Welt führen, die Ideale der Freiheit hochhalten, die Menschenrechte wahren. Gleichzeitig war seine Antrittsrede auch eine Mahnung an seine Landsleute zu einem nationalen Kraftakt in schweren Zeiten, die noch lange nicht vorbei seien.
"Erster afro-amerikanischer Präsident: Da solltest Du gut sein", hatte ihm seine zehnjährige Tochter Malia auf den Weg zur mit großer Spannung erwarteten Rede gegeben. Und Obama war sichtlich willens, eine Rede zu halten, die in der Tradition eines Abraham Lincoln oder John F. Kennedy stehen sollte. Also beschwor er die "Ideale der Gründerväter" und das "Geschenk der Freiheit", prangerte die "falsche Wahl zwischen Sicherheit und Idealen" an - in deutlicher Anspielung auf die Verletzung von Menschenrechten in amerikanischem Namen unter seinem Vorgänger George W. Bush.
Obama forderte eine Umkehr Amerikas zu den "alten", einfachen Werten von "harter Arbeit und Ehrlichkeit, Mut und Fairness, Toleranz und Neugier, Loyalität und Patriotismus". Sie seien die stillen Kräfte des Fortschritts in der Geschichte der Vereinigten Staaten gewesen. Notwendig sei nun eine neue "Ära der Verantwortlichkeit" für jeden einzelnen Amerikaner, "jeder hat Pflichten, uns selbst, unserer Nation und der Welt gegenüber".
Der große Redner Obama suchte sichtlich die Balance zwischen einer Botschaft des Optimismus und einer ehrlichen Analyse seines in einer tiefen Krise steckenden Landes. Er selbst verwies auf die "nagende Angst" vieler Amerikaner, dass sich das "Land im Niedergang" befinde, sprach das "schwindende Selbstbewusstsein" der US-Bürger an. Obama wollte sein Versprechen wahr machen und den Menschen neue "Hoffnung" geben - aber ein Kern seiner Botschaft war auch, dass nicht nur er, sondern alle Amerikaner gefordert seien. "Wir haben Hoffnung gewählt - nicht Furcht", versicherte er. Aber Amerika müsse seine Ärmel ab sofort hochkrempeln.
Auch wenn den Millionen in Washington und Milliarden an den TV-Schirmen in der ganzen Welt bewusst war, welch historischer Moment es war, als Obama zum ersten schwarzen Präsidenten der USA vereidigt wurde - er selbst erwähnte es eher am Rande: Auf den Stufen des Kapitols lege jemand seinen Amtseid ab, "dessen Vater vor weniger als sechzig Jahren in einem Restaurant möglicherweise nicht einmal bedient worden wäre".
Aber gerade die Selbstverständlichkeit, mit der der neue US-Präsident sich vor allem den großen politischen Themen - und nicht den Rassenproblemen - widmete, zeigte, dass die USA an diesem Tag einen großen Schritt gemacht haben, den "Traum" von Martin Luther King von der Gleichberechtigung der Rassen umzusetzen.
Obama hielt keine "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede, die manche Kommentatoren erwartet hatten. Aber er forderte von seinen Landsleuten einen langen Atem und Mut. Und er drosselte die extrem hohen Erwartungen. Schließlich schlägt die "Obamania" nicht nur in den USA extrem hohe Wellen. Schon vor Tagen hatte er betont, dass er auch Fehler machen werde, dass seine Politik in Sackgassen geraten könne: "2009 wird ein hartes Jahr."