Analyse: Merkels Tabubruch beim „Aufbau West“

Die Kanzlerin hat mit ihrem Vorstoß viele überrascht – die Debatte galt bislang als vermintes Terrain.

Berlin. Mit ihrem Hinweis auf veraltete Stadthallen und Schulen im Westen Deutschlands ist Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf Kritik gestoßen. Darf der Vorrang für den Aufbau Ost 18 Jahre nach der Wiedervereinigung infrage gestellt werden - und dann noch von einer Ostdeutschen? Bisher gilt ein solcher Vorstoß als tabu.

Es ist eine Grundstrategie der Kanzlerin: Angela Merkel versucht, wo immer es geht, unnötige Angriffsflächen zu vermeiden. Umso mehr sind auch die eigenen Parteifreunde vor allem aus dem Osten überrascht, dass die CDU-Vorsitzende sich nun zum Aufbau West bekannt hat. Merkel will, so hat sie es in einem Interview verraten, jedenfalls die geplanten Mehr-Investitionen zur Abmilderung der Wirtschaftskrise verstärkt auch in den Westen fließen lassen. "Der Westen ist jetzt verstärkt am Zuge", lautete der Kernsatz der Kanzlerin.

Diese Aussage ist deshalb unerwartet, weil es in der Bundespolitik unter allen Parteien die mehr oder weniger unausgesprochene Absprache gibt, dass sich Vergleiche zwischen Ost und West nahezu verbieten. Als zu zerbrechlich gilt fast zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall der Zusammenhalt des Landes, als dass der Zustand von Straßen und Autobahnen oder die Höhe der Renten gegenseitig aufgerechnet werden kann. Neid ist das letzte, was die Politik befördern will. Wenn es um notwendige Angleichungen zwischen Ost und West und mittlerweile auch umgekehrt geht, geschieht das immer in gebremster Tonlage.

Dabei kommt die Debatte für die Kanzlerin zur Unzeit. Die CDU hatte sich auf ihrem Parteitag vor drei Wochen in Stuttgart gerade erst mit einem Papier zu den "Perspektiven für Ostdeutschland" bekannt. Eine Kernthese: An den Mitteln für den Osten soll nicht gerüttelt werden. Allenfalls sollen die Gelder stärker für den Aufbau einer funktionierenden Forschungslandschaft verwendet werden. Die CDU wollte sich wieder als die Partei der deutschen Einheit bei den Wählern in Erinnerung bringen.

Merkel hat die Aufbau-Ost-Gelder zwar mit keiner Silbe infrage gestellt. Wohl hat sie aber deutlich gemacht, dass es in der Wirtschaftskrise keinen Vorrang Ost mehr geben kann. Schon das machte aber viele nervös.