Analyse: Wie die Belgier es mit der Wahlpflicht halten
90,4 Prozent Beteiligung bei der Europawahl: Kann man Demokratie wirklich erzwingen?
Brüssel. Eine Wahlbeteiligung von 90,4 Prozent - davon können andere EU-Länder nur träumen. Neidisch schielen viele Politiker derzeit nach Belgien, wo am Sonntag fast alle Berechtigten ihre Stimme bei der Europawahl abgegeben haben.
Das vorbildliche Ergebnis liegt aber weniger am außerordentlich hohen Interesse der Menschen für europäische Politik als an der Tatsache, dass im Land Wahlpflicht herrscht: Wer nicht im Wahllokal erscheint, dem droht eine Geldbuße von bis zu 50 Euro. Dem SPD-Bundestagsabgeordneten Jörn Thießen dient das kleine Nachbarland deshalb als Vorbild. Auch in Deutschland könne man die Menschen zum Wählen verpflichten, sagte er.
Tatsächlich haben die Belgier bislang gute Erfahrungen mit ihrem System gemacht. "Die Politikverdrossenheit ist auch bei uns groß", sagt der Liberale Berni Collas, Senator für die deutschsprachige Gemeinschaft in Brüssel. "Wenn die Bürger nicht dazu verpflichtet wären, würden viele aus Bequemlichkeit nicht wählen gehen." So müssten sie sich wenigstens in Grundzügen mit politischen Themen und Kandidaten auseinander setzen.
Von einer "absoluten" Wahlpflicht kann in Belgien allerdings nicht die Rede sein. Wer zum Beispiel krank ist oder im Urlaub, kann sich abmelden. Außerdem kommen Wahlmuffel meist ungeschoren davon.
Offiziell droht zwar eine Geldbuße, die sich im Wiederholungsfall auf bis zu 125 Euro erhöhen kann. Wer im Laufe von 15 Jahren mindestens vier Mal nicht an Wahlen teilnimmt, wird für zehn Jahre aus den Wählerlisten gestrichen und kann in dieser Zeit keinerlei Ernennung, Beförderung oder Auszeichnung einer öffentlichen Behörde erhalten.
"Aber in der Praxis geschieht meist nichts", räumt Leo Stangerlin ein. Der Präsident des Gerichts Erster Instanz in Eupen kann sich jedenfalls an keinen Fall erinnern, der in seinem Bezirk jemals verfolgt wurde. In der Justiz würde das zu viele Kräfte binden. Trotz allem übe die Wahlpflicht nach wie vor eine disziplinierende Wirkung aus - wie die ungebrochen hohe Beteilung zeigt.
Kritik gibt es dennoch auch in Belgien immer wieder: Die Gegner der Wahlpflicht sagen, sie würde Protestler dazu verleiten, extremen Rechts- oder Linksparteien ihre Stimme zu geben. Andere behaupten, die großen, bürgerlichen Parteien würden profitieren, weil sie es in der Regel schwerer haben, Wähler zu mobilisieren. Gesicherte Erkenntnisse gibt es dazu nicht. Auch deswegen sind Forderungen zur Abschaffung meist schnell verpufft.