Atomkraft: Bürger gehen wieder auf die Straße
Massendemonstration in Berlin: Die Menschen fühlen sich von den gewählten Volksvertretern nicht mehr repräsentiert.
Berlin. Zehntausende Menschen aller Altersgruppen haben sich vor dem Berliner Hauptbahnhof versammelt, in Sichtweite von Kanzleramt und Reichstag. Von ihren gewählten Vertretern im Parlament fühlen sich die Demonstranten mit ihren Anti-Atom-Plakaten nicht mehr repräsentiert. Sie pfeifen, rufen und recken Fahnen in die Höhe: "Atomkraft? Nein danke!"
"Mit der heutigen Demonstration werden wir der Bundesregierung zeigen, dass sie mit ihrem atompolitischen Kurs nicht durchkommt", sagt Jochen Stay vom Aktionsbündnis "ausgestrahlt", einem der Veranstalter der Kundgebung.
Die Laufzeitverlängerung für Atommeiler um durchschnittlich zwölf Jahre dürfte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Kabinett Wählersympathien gekostet haben. Einer ZDF-Umfrage zufolge sieht die Mehrheit der Deutschen darin vor allem die Interessen der Atomkonzerne berücksichtigt. Für die Opposition ist der geplante Beschluss am Bundesrat vorbei ohnehin ein "politischer Skandal" (SPD), "schmutziger Deal" (Grüne) und "Angriff auf die Demokratie" (Linke).
Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann sieht in den Anti-Atom-Protesten gar den Beginn einer neuen Protestkultur. "Das ist das Fünkchen, aus dem sich eine neue politische Bewegung entwickeln kann", sagte er. Bei den Zwölf- bis 16-Jährigen könne über das Thema Atomkraft das politische Interesse auch generell wieder ansteigen.
Hurrelmanns These findet Zustimmung bei SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. Die Proteste zeigten eine "Renaissance der Bürgerbeteiligung", sagt sie. Statt Frust zu schieben, gingen die Leute wieder auf die Straße.
Auch Mario Bloem läuft erstmals seit der Nato-Nachrüstung 1981 wieder bei einer Großdemonstration mit. Die Proteste gegen Atomkraft und das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 sieht er als historischen Moment: "Die Menschen zeigen, dass sie sich von der Politik nicht mehr vertreten fühlen." Während die Endzwanziger und Mittdreißiger ein "apolitischer Totalausfall" seien, engagiere sich die nachwachsende Generation wieder.
Laut der Shell-Jugendstudie 2010 verfolgen 40 Prozent der 15- bis 24-Jährigen die Politik, sechs Prozent mehr als noch 2002. Und tatsächlich sind viele Junge unter den Berliner Demonstranten.
Offenbar ziehen die Debatten um Atomkraft und Stuttgart 21 nicht nur Zehntausende auf die Straße und politische Gräben durch die Republik. Sie geben den Parteien auch die Chance, ihr Profil wieder zu schärfen, wie das Umfragehoch der Grünen beweist. Kanzlerin Merkel hat einen "Herbst der Entscheidungen" angekündigt. Dessen Folgen könnten schon bei den sechs Landtagswahlen 2011 zu spüren sein.