Analyse: Christian Wulffs Tanz auf dem Drahtseil
Der Bundespräsident will Integration zum Schwerpunkt machen. Die Sarrazin-Debatte stört das Vorhaben.
Berlin. Mit mangelndem "Respekt vor dem Amt" hatte Bundespräsident Horst Köhler Ende Mai seinen plötzlichen Rücktritt begründet. Sein Nachfolger Christian Wulff ist noch keine 100 Tage Staatsoberhaupt. Und schon muss auch er öffentlich mehr Achtung vor dem höchsten Staatsamt einfordern.
Die Grünen-Fraktionschefin Renate Künast ging nun in der Tonlage ungewöhnlich scharf mit Wulff ins Gericht. Das Schweigen des Präsidenten in der Integrationsdebatte sei "beschämend". Sein Eingreifen bei der Ablösung von Thilo Sarrazin als Bundesbank-Vorstand bekomme damit eine "peinliche Note".
Die Thesen des früheren Berliner Finanzsenators zur fehlenden Integrationsfähigkeit von Muslimen lösten eine beispiellos schrille Debatte aus. Eigentlich ein Muss-Thema für einen Bundespräsidenten, der Orientierung geben und "Brückenbauer" sein will. Doch die Verknüpfung der Diskussion über Chancen und Grenzen der Integration mit der Person Sarrazin war zugleich das Dilemma des Präsidenten - war er doch auch letzte Instanz für die Abberufung von Sarrazin aus dem Bundesbank-Vorstand. Seine Einlassung zu einem möglichen Schaden für die Bundesbank wurde von manchen als zu wenig neutral kritisiert.
Für den 3. Oktober - zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit - bereitet Wulff nun seine erste Grundsatzrede als Staatsoberhaupt vor. Die Probleme mit der Migration sollen neben der Einheit ein Thema sein, ließ Wulff am Wochenende wissen. Seine Arbeitsplanung will er sich nicht von außen diktieren lassen.
Entsprechend schroff reagierte das Bundespräsidialamt auf Künasts Drängen: "Die Aufforderung dazu lässt jeden Respekt vor dem Amt vermissen. Der Bundespräsident hat entschieden, die politische Agenda nicht von Provokationen und Buchvorstellungen bestimmen zu lassen."
Dass die Opposition den Bundespräsidenten schon in den ersten Monaten angreift, wird mit dem abrupten Amtswechsel von Köhler zu Wulff begründet. Manche hätten sich noch nicht daran gewöhnt, dass Wulff nicht mehr Ministerpräsident ist, heißt es in Regierungskreisen. Der Politologe Gerd Langguth findet die "Herumnörgelei" gefährlich. "Das kann das Amt beschädigen. Man muss ihm Zeit lassen, sich einzuarbeiten."