„Die Macht spuckt auf die Verfassung“

Interview Putin-Kritiker Garri Kasparow fordert die Europäische Union zum Handeln auf.

Herr Kasparow, als Hauptorganisator eines Protestmarsches in Samara wurde Ihnen soeben der Pass entzogen. Wie ist Ihre Situation?

Kasparow: Das hier sprengt jedes Gesetz. Wir hatten keine Chance, mit gekauften Flugkarten nach Samara zu fliegen. Indem man uns die Pässe abgenommen hat, wird klar demonstriert: Die Macht spuckt auf die Verfassung einschließlich aller russischen Gesetze, aber auch auf die Pflichten der Führung.

Was war Ihr erster Gedanke?

Kasparow: Eine solche Situation kann nicht unbemerkt bleiben. Beim Gipfel treffen sich die Vertreter der EU mit der russischen Führung, und gleichzeitig wird die russische Opposition unterdrückt. Ganz offen in Anwesenheit von westlichen Korrespondenten.

Was bedeutet der Vorfall in Moskau für den Protestmarsch gegen Putins Regime in Samara?

Kasparow: Vielleicht kommt ja noch jemand zu diesem Marsch. Aber Sie müssen verstehen, dass unsere Organisation über zwei Wochen systematisch unterdrückt worden war.

Wie sah das aus?

Kasparow: Viele Menschen wurden mehrfach festgenommen. Wir konnten keine Zeitung herausgeben. Wir konnten nicht für die Aktion werben, trotz festen Vereinbarungen mit zwei Radiosendern und einem Fernsehkanal. Wir haben alles unternommen, um einen bereits genehmigten Marsch durchzuführen. Der Widerstand aber war ungeheuer.

Garri Kasparow, ehemaliger Schachweltmeister und heutiger Oppositioneller in Russland

Was ist für Sie das Ergebnis?

Kasparow: Für mich zeigen die Ereignisse noch einmal ganz deutlich, dass das Putin-Regime auch in seinem Wesen viel mehr den Regimen in Weißrussland und Simbabwe ähnelt als der Europäischen Union.

Was erwarten Sie von der EU?

Kasparow: Ihre Führung muss Putin ganz klar sagen, dass solch ein Benehmen unvermeidlich bestimmte Folgen hat.

Gehen Sie wegen des Passentzugs vor Gericht?

Kasparow: Natürlich. Aber wenn wir hier vor uns die Milizionäre mit ihren Gesichtern sehen, begreifen wir, dass sie bestimmte Hinweise bekommen haben. Real kommandieren die ganze Situation hier Menschen in Zivil. Mitarbeiter der Sonderdienste wollen nichts erklären.

Empfinden Sie die Lage als absurd?

Kasparow: Im Prinzip sind wir jetzt auf dem Territorium des russischen Staates, auf dem die russische Verfassung nicht funktioniert.

Immer wieder behaupten Ihre Gegner, Sie wären als Aserbaidschaner gar nicht berechtigt zum Protest gegen die russische Innenpolitik.

Geburt: Garri Kasparow kommt am 13. April 1963 in Baku, heute Aserbaidschan, auf die Welt.

Karriere: Mit fünf Jahren lernt er Schach. Er gilt auch nach seinem Rücktritt 2005 noch als der beste Schachspieler aller Zeiten.

Politik: Seit 2005 engagiert er sich in der Politik. Er ist Mitbegründer des "Komitees 2008: Freie Wahlen", das eine weitere Amtszeit von Putin verhindern will.