Die Türkei – ein „Parteien-Friedhof“
Analyse: Die Justiz hat seit den 1960er Jahren 24 Verbote verhängt. Das droht nun auch Erdogans AKP.
Istanbul. Was in anderen Demokratien die Ausnahme ist, gehört in der Türkei seit Jahrzehnten fast zum Alltag: Seit der Gründung des türkischen Verfassungsgerichts im Jahr 1963 hat die Justiz nicht weniger als 24 politische Parteien verboten.
Von einem "Parteien-Friedhof" ist deshalb in Zeitungen häufig die Rede. Nun könnte bald die Nummer 25 hinzukommen: Das Verfassungsgericht, das am Montag seine Beratungen aufnahm, will in den kommenden Tagen über eine Auflösung der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan entscheiden.
Vor allem linke, kurdische und religiös geprägte Parteien wurden bislang verboten. Hinter den häufigen Verfahren steht die Annahme, dass der Staat vor politischen Bewegungen geschützt werden muss, wenn diese die Einheit oder die säkularen Grundsätze der Republik bedrohen - selbst wenn diese Parteien ihre Ansichten nur gewaltfrei vertreten.
Der bislang spektakulärste Fall war das Verbot der islamistischen Wohlfahrtspartei (RP) im Januar 1998 - kurz zuvor hatte die Partei in Necmettin Erbakan noch den Ministerpräsidenten gestellt.
Dass Regierungsparteien nicht vor Verboten gefeit sind, hatte sich schon vor der Gründung des Gerichts gezeigt: Im Juni 1960 war die Demokratische Partei (DP) aufgelöst worden - einen Monat zuvor war DP-Chef und Ministerpräsident Adnan Menderes durch einen Putsch gestürzt worden. Er wurde hingerichtet.
Vor allem im Zuge des türkischen EU-Strebens wird über demokratischere Grundsätze für Verbotsverfahren debattiert. Im Zusammenhang mit dem AKP-Prozess spielen insbesondere die "Venedig-Kriterien" eine Rolle.
Nach diesen Leitlinien des Europarats, dem die Türkei angehört, sollen Verbote auf jene Fälle beschränkt werden, in denen Parteien die Gewalt als politisches Mittel einsetzen oder befürworten. Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalcinkaya argumentiert aber, die "Venedig-Kriterien" müssten im Fall der AKP außen vor bleiben, weil sie islamistische Gefahren nicht umfassten.
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg hat die Türkei in acht Fällen von Parteiverboten gerügt, in denen es nach seiner Meinung nicht mit rechtsstaatlichen Dingen zuging. Experten glauben, dass die Europarichter ein AKP-Verbot als undemokratisch einstufen würden, sollte sich die Partei nach einem entsprechenden Urteil an Straßburg wenden.
Da Verfahren dort aber Jahre dauern, wäre dies nur ein schwacher Trost für die AKP, die dann längst auf dem "Parteien-Friedhof" liegen würde.