Ein Warnschuss der Richter
Die Partei AKP von Ministerpräsident Erdogan bleibt an der Macht, muss aber mit weniger Geld vom Staat auskommen.
Ankara. Wie ein Damoklesschwert hing das Verbotsverfahren gegen die türkische Regierungspartei AKP über den Köpfen von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seinen Gefolgsleuten. Wie gebannt warteten 70 Millionen Türken auf das Verdikt der elf Richter am Verfassungsgericht in Ankara.
Darüber trat am Mittwoch selbst das Entsetzen über den schweren Bombenanschlag in Istanbul in den Hintergrund, bei dem am Sonntag 17Menschen getötet worden waren. Ebenso verschwanden die Umtriebe der nationalistischen Untergrundgruppe Ergenekon aus dem Blickfeld, deren Mitglieder laut Anklageschrift geplant hatten, mit Anschlägen und dem Schüren von ethnischen und sozialen Spannungen einem Putsch des Militärs den Boden zu bereiten.
Vor diesem Hintergrund wachsender Spannungen in einem ohnehin zu Instabilität neigenden Land hielten es die Verfassungsrichter ganz offensichtlich für geboten, Eile walten zu lassen. In der Rekordzeit von nur viereinhalb Monaten brachten sie das im März vom obersten Staatsanwalt angestrengte Verbotsverfahren gegen die religiös-konservative AKP über die Bühne.
Bei den islamistischen Vorgängerparteien Refah (Wohlfahrtspartei) und Fazilet (Tugendpartei) hatten die Verfahren 1998 und 2001 fast acht Monate beziehungsweise zwei Jahre gedauert - mit dem Ergebnis, dass sie verboten wurden.
Das gleiche Schicksal blieb Erdogan und seiner AKP, die vor einem Jahr fast jede zweite Wählerstimme für sich verbuchen konnte, erspart - wenn auch nur äußerst knapp. Hätte sich auch nur ein Richter mehr für das beantragte Verbot ausgesprochen, wäre die Partei aufgelöst worden.
Damit hätte sich nach Einschätzung von Beobachtern ein "gefährliches Machtvakuum" aufgetan. Denn bei aller Kritik an der AKP, in der die politischen Gegner auch nach fast sechs Jahren Regierungszeit immer noch ein "Schaf im Wolfspelz" sehen, sind sich in der Türkei fast alle einig: Eine Alternative, eine Mehrheit für eine andere Partei als die AKP, ist nicht in Sicht.
Erdogan kann weiterregieren - aus dem Damoklesschwert, das zum Aus der Partei hätte führen können, ist eine "ernste Verwarnung" geworden, wie sich der Präsident des Verfassungsgerichts, Hasim Kilic, ausdrückte. In der nächsten Zeit muss sich die AKP mit der Hälfte der finanziellen Zuwendungen des Staates begnügen.
Dies ist nicht der erste Warnschuss, den das Gericht in Richtung AKP abgefeuert hat. Erst vor wenigen Wochen hatte Erdogan eine schwere Niederlage im Streit um das islamische Kopftuch an den Hochschulen hinnehmen müssen. Sein Vorstoß, das Tragen von Kopftüchern an Hochschulen zu erlauben, verstoße gegen die Grundprinzipien der türkischen Republik und die Verfassung, hatten die Richter Anfang Juni geurteilt.
Nachdem einige Hochschulen das Tragen bereits erlaubt hatten, mussten junge Studentinnen ihre Kopftücher wieder einpacken. Erdogan und seiner parlamentarischen Macht hatte das Gericht ein "Stützkorsett aus Stahl" verpasst.
Auch für die EU, die das Verbotsverfahren mit Argus-Augen verfolgt hatte, ist mit dem Urteil die Last einer schweren Entscheidung genommen worden - die einer angemessenen Reaktion auf den unerhörten Vorgang, dass in einem Kandidatenland die vom Volk gewählte Regierungspartei von einem Gericht auf kaltem Wege ins Aus befördert worden wäre.
Allerdings herrschte unter Beobachtern der Eindruck vor, dass es die EU selbst im Falle eines AKP-Verbots nicht riskiert hätte, die Beitrittsverhandlungen zu stoppen oder auf Eis zu legen. Denn damit wäre nach dieser Sichtweise das Kapitel EU-Türkei abgeschlossen. Einmal eingefroren, würde sich unter den 27 EU-Mitgliedern kaum ein neuer Konsens über eine Wiederaufnahme der Verhandlungen herstellen lassen, lautete das Argument.
Es mag als Punktsieg für die Demokratie durchgehen, dass das vomtürkischen Verfassungsgericht angestrebte Verbot der AKP an derfehlenden Stimme eines Richters knapp scheiterte. Denn ein Urteil, daseine Partei, die fast 50Prozent der türkischen Wähler repräsentiert,verboten hätte, ein Urteil zudem, das dem amtierenden Staatspräsidentenund dem amtierenden Ministerpräsidenten jede politische Betätigunguntersagt hätte, ein solches Urteil stünde dem versuchten Staatsstreichnäher als dem Vollzug rechtsstaatlicher Normen.
Denn tatsächlich war das Verfahren gegen die AKP nur diefadenscheinig verhüllte politische Revanche der bei den jüngsten Wahlenein ums andere Mal geschlagenen kemalistischen Eliten. Das voninteressierter Seite gezeichnete Bild, in diesem Konflikt stehe eineaufgeklärte laizistische Führung gegen eine Sammlungsbewegung böserIslamisten, aus den Bergen Anatoliens heruntersteigend und auf dembesten Weg zur Einführung der "Scharia", war ein leicht durchschaubarerUnfug.
Tatsächlich hat die AKP in einem rasanten gesellschaftlichenWandel die traditionell eingestellte türkische Mehrheitsgesellschaftwirtschaftlich und politisch emanzipiert und damit zu einer ernsthaftenKonkurrenz der bisherigen Eliten gemacht. Keine Vorgänger-Regierung hatdie Türkei so stark an Europa herangeführt wie das Kabinett Erdogan.
Erdogans AKP ist eine konservativ-islamische Partei, die einesäkulare Politik verfolgt. Im Kern steht ein demokratischer, anwestlichen Vorbildern orientierter Laizismus der AKP gegen einenautoritären Laizismus, den die zu Gralshütern eines ideologisiertenKemalismus erstarrten Eliten in Militär, Justiz und Geheimdienst derGesellschaft glaubten verordnen zu können.