Interview mit Kurt Biedenkopf: "Ost-Berlin war menschenleer"
Kurt Biedenkopf war der erste Ministerpräsident in Sachsen. Im Gespräch erinnert er sich an den Augenblick, als die Mauer fiel.
Herr Biedenkopf, wie haben Sie damals vom Mauerfall erfahren?
Biedenkopf: Im Bundestag. Ich war damals Abgeordneter. Für den Abend war eine Plenarsitzung anberaumt. Als der Berichterstatter des federführenden Ausschusses ans Pult trat, sagte er: "Vielleicht interessiert es das Haus, dass die DDR soeben bekannt gegeben hat, die Reisebeschränkungen für ihre Bürger aufzuheben." Dann trug er seinen Bericht vor und die Beratung nahm ihren Gang. Doch langsam breitete sich Unruhe aus und die folgenden Redner sprachen zunächst die Neuigkeit an und weniger das eigentliche Thema. Man spürte, wie jedem langsam klar wurde, was da gerade mitgeteilt worden war. Schließlich wurde die Debatte unterbrochen und die Fraktionsvorsitzenden erhielten das Wort. Nachdem der letzte gesprochen hatte, erhob sich der westfälische Abgeordnete Unland und stimmte die Nationalhymne an. Alle standen auf - die Grünen etwas zögerlich - und stimmten mit ein.
Was war Ihr erster Gedanke, als diese Mitteilung gemacht wurde?
Biedenkopf: Ich war überrascht, konnte aber die Meldung zuerst nicht so richtig deuten. Irgendjemand las dann die Passage aus der berühmt gewordenen Äußerung Schabowskis vor. Sie erschien uns unklar, eher sybillinisch. Letztlich interpretierten die Menschen in Ost-Berlin sie auf ihre Weise, stürmten praktisch die Mauer und brachten sie zu Fall.
Wie ging es dann nach der Sitzung weiter?
Biedenkopf: Am nächsten Tag flog die Fraktion nach Berlin. Mitglieder der Jungen Union luden uns am Abend ein, uns an einem Fackelzug zur Mauer zu beteiligen. Es war ein unglaubliches Erlebnis: Die Leute tanzten auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor. Sie war dort zwei Meter breit. Die berühmten Mauerspechte meißelten bereits Stücke heraus. Morgens um drei Uhr kehrte ich sehr fröhlich und aufgekratzt ins Hotel zurück. Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Berliner Abgeordneten Lehmann-Brauns in den Ostteil der Stadt. Wir hätten es fast nicht geschafft, weil uns ein nicht enden wollender Strom von Menschen durch den engen Grenzübergang entgegenströmte. Wir haben uns dann in Ost-Berlin umgesehen - die Straßen waren fast menschenleer.
Haben Sie geglaubt, dass Sie die Einheit noch erleben würden?
Biedenkopf: Ja, absolut. In meinem Buch "Zeitsignale" hatte ich mich im Sommer 1989 mit Möglichkeiten einer deutschen Vereinigung befasst. Ich hatte schon damals den Eindruck, dass die Verhältnisse in der DDR nicht mehr lange aufrechterhalten werden könnten. Natürlich habe ich die Ereignisse im Herbst nicht vorausgesehen. Aber ich war von ihnen nicht gänzlich überrascht. Insgesamt waren wir in Westdeutschland jedoch mental nicht auf eine Wiedervereinigung vorbereitet.
Auch im Herbst dauerte es noch eine ganze Weile, bis die Erkenntnis in den Köpfen im Westen ankam, dass Deutschland wieder vereint sein würde. Woher kam Ihre Ahnung?
Biedenkopf: Der Zusammenbruch zeichnete sich ab. Die Entwicklung begann mit dem Abbau der Grenzbefestigungen zwischen Österreich und Ungarn im Juni 1989. Als der damalige ungarische Außenminister den Zaum durchschnitt, soll jemand aus der Delegation Ungarns den treffenden Satz gesagt haben: "Eben ist die Mauer gefallen. Sie weiß es nur noch nicht." Mit der Öffnung des Grenzzauns hatte Ungarn seine vertragliche Verpflichtung gegenüber der DDR aufgekündigt, Bewohner der DDR nicht in den Westen gelangen zu lassen. Die nächsten Etappen waren dann die von Genscher ausgehandelte Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge Ende September und der Beginn der Großdemonstrationen Anfang Oktober.
Hatten Sie je die Sorge, dass das Ganze in einem Blutbad endet?
Biedenkopf: Für diese Sorge hatten wir schlicht keine Zeit. Es ging ja alles wahnsinnig schnell. Dass in Leipzig bei der Demonstration am 9. Oktober keine Gewalt angewendet wurde, war ein starkes Signal - auch dass die sowjetischen Truppen keine Anstalten machten einzugreifen. Mit dem Wechsel von Honecker zu Krenz wurde immer deutlicher, dass das DDR-Regime implodierte. Im März 1990 folgten die ersten freien Wahlen. Gerade einmal fünf Monate waren vergangen seit den ersten Großdemonstrationen.
Wenn Sie heute auf die vergangenen 20 Jahre zurückblicken: Ist seit dem Mauerfall das Meiste richtig gemacht worden?
Biedenkopf: Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir keinen Maßstab haben. Es gibt keine Erfahrungen, mit denen man unsere Entscheidungen vergleichen könnte. Es gibt kein anderes Land, in dem die Transformation mit einem nationalen Zusammenwachsen einherging. Ich glaube aber, dass wir die meisten der großen Fragen richtig beantwortet haben.