KInderschutz: Pflicht-Vorsorge für Kinder
Die Länder suchen nach Wegen, Misshandlungen frühzeitig zu verhindern. In NRW gehen Sozialarbeiter in die Familien.
Saarbrücken. Ihre Namen sind geblieben: Michelle, Jessica, Kevin oder Lea-Sophie. Das qualvolle Sterben dieser Kinder löste Entsetzen und Fassungslosigkeit aus - und immer wieder politische Debatten. Wie kann der Staat die Schwächsten vor ihren Eltern schützen, wie kann er überforderten Müttern und Vätern helfen? Angesichts der jüngsten Todesfälle hat Kanzlerin Angela Merkel (CDU) das Thema auf der Agenda nach oben gesetzt und das turnusmäßige Treffen mit den Ministerpräsidenten gestern in Berlin zum "Kindergipfel" gemacht.
Streit gibt es darüber, ob die Rechte von Kindern besser im Grundgesetz verankert werden sollten. Bei der Frage nach besserer Früherkennung von Gewalt, Verwahrlosung oder Missbrauch zeichnete sich aber schon vor Beginn der Beratungen weitgehende Übereinstimmung ab. Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) will eine zusätzliche Vorsorgeuntersuchung für Dreijährige. "Die Risiken für Kinder müssen früh erkannt werden, um für gefährdete Kinder ein Netz der Hilfe zu knüpfen."
Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) fordert weiter bundesweit verpflichtende Früherkennungsuntersuchungen. Das Land hat bereits vor Monaten ein entsprechendes Gesetz beschlossen. Dort müssen Eltern seit Februar ihre Kleinen regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen bringen.
Die Ärzte melden die Teilnahme. Das Zentrum für Kindervorsorge gleicht dann die Meldedaten der Kommunen mit den Rückmeldungen der Kinderärzte ab, um herauszufinden, ob die Untersuchungen wahrgenommen werden. Säumige Eltern werden angeschrieben, später wird das Gesundheitsamt informiert.
Das CDU-regierte Hessen beschloss ebenfalls, die neun Untersuchungen für Kinder von der Geburt bis zum Alter von fünfeinhalb Jahren zur Pflicht zu machen. Die Oppositionsparteien SPD und FDP hatten das Gesetz mitbeschlossen. Thüringen will die Kommunikation zwischen Behörden und Beratungsstellen verbessern. Eine Pflicht lehnt Landessozialminister Klaus Zeh (CDU) aber ab. In Bayern sollen Vorsorgeuntersuchungen für Kinder vom Frühjahr an vorgeschrieben sein.
Herr Dr. Kahl, sind verbindliche Vorsorgeuntersuchungen das beste Frühwarnsystem?
Kahl: Leider reicht eine verpflichtende Vorsorgeuntersuchung nicht aus, um Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zu verhindern. Wir leisten als Kinderärzte damit aber unseren Anteil, einen größeren Kreis von Kindern zu erreichen.
Wie müsste die Hilfe aussehen?
Kahl: Notwendig ist ein professionelles Netzwerk, in dem Ärzte, Hebammen, Jugendämter und Jugendgesundheitsdienste zusammenarbeiten.
Wo sehen Sie Ihre Aufgaben?
Kahl: Wir Kinderärzte sind Fachleute, die den Gesundheits- und Entwicklungsstand eines Kindes in den verschiedenen Lebensphasen beurteilen können. Wir können feststellen, ob Kinder wegen einer angeborenen Erkrankung oder aus anderen Gründen Defizite in der Entwicklung haben.
Die Vorsorgeuntersuchungen stammen aus den 70er Jahren. Sind sie auf dem aktuellen Stand?
Kahl: Nein. Damit kann der Kinderarzt die sozialen und familiären Lebensumstände der Kinder nicht ausreichend beurteilen. Wir als Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte haben das Programm überarbeitet. Wir verhandeln nun mit den Krankenkassen über die Kostenübernahme.
Reicht es aus, die Vorsorgeuntersuchungen nur um eine im 3. Lebensjahr zu ergänzen?
Kahl: Sinnvoll wäre es, Kinder bis zum 5. Lebensjahr alle sechs Monate zu untersuchen.
Lang und breit hat die Kanzlerin mit den Regierungschefs über die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz diskutiert. Vertane Zeit, denn diese verfassungstheoretische Scheindebatte hilft vernachlässigten und misshandelten Kindern nicht weiter. Viel wichtiger ist die Absicht der Politik, das Jugendhilfesystem zu reformieren und professionelle Netzwerke zu schaffen, in denen Ärzte, Hebammen, Kinderschutzbund und Ämter effektiv zusammenarbeiten. Die verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen sind da ein kleiner, aber wichtiger Baustein. Das System funktioniert jedoch nur, wenn die Strukturen von öffentlichen Gesundheitsdiensten und Jugendhilfe nicht länger totgespart werden. Das wäre ein echtes Signal für den Kinderschutz.