Volksinitiative gegen „Turbo-Abitur“ hat bislang 30 000 Unterstützer
Auch im neuen Schuljahr wird in NRW weiter um die „richtige“ Schulzeit gerungen. Die Volksinitiative gegen G8 hat schon viel Zulauf. Der Bonner Erziehungswissenschaftler Prof. Ladenthin hat negative Erfahrungen mit seinen ersten G-8-Absolventen gemacht.
Düsseldorf (dpa). Die Volksinitiative gegen das „Turbo-Abitur“ hat in Nordrhein-Westfalen nach Angaben der „Bürgerinitiative für familiengerechte Bildung“ bereits 30 000 Unterschriften gesammelt. Das Bündnis braucht rund 66 000 Unterstützer, um die umstrittene Schulzeitverkürzung auf die Tagesordnung des Landtags zu bringen.
Die Ende April gestartete Aktion laufe weiter, sagte die Sprecherin der Bürgerinitiative „G-ib-8“, Anja Nostadt, am Dienstag der Nachrichtenagentur dpa in Düsseldorf. Die Unterschriften müssen innerhalb eines Jahres zusammenkommen. Nostadt forderte die rot-grüne Regierung auf, jetzt schon zu handeln, denn die meisten Bürger lehnten das „Turbo-Abitur“ laut repräsentativer Meinungsumfragen eindeutig ab. In mehreren bundes- und landesweiten Umfragen hatten sich etwa drei von vier Bürgern gegen die Schulzeitverkürzung von 13 auf 12 Jahre ausgesprochen.
Auch im diesen Mittwoch beginnenden neuen Schuljahr wird in NRW am „Runden Tisch“ der Schulministerin weiter zwischen Politik und Verbänden um die Systemfrage gerungen. Nach den Sommerferien tagen die Arbeitsgruppen mindestens bis Jahresende weiter.
Zu den Kritikern der Schulzeitverkürzung zählt der Erziehungswissenschaftler Prof. Volker Ladenthin vom Bonner Zentrum für Lehrerbildung. Er hat bei seinem ersten Ausbildungsjahrgang mit G-8-Absolventen negative Beobachtungen gemacht: „Die Zahl der Studierenden, die alleine anspruchsvollere, abstrakte Aufgaben lösen können, nimmt ab“, berichtete er der dpa. Zwar sei das Phänomen nicht ausschließlich auf G8 zurückzuführen, falle aber mit diesem Jahrgang zusammen und sei auch entwicklungspsychologisch zu erklären. „Zu bestimmten abstrakten Gedankenoperationen sind wir erst in einer bestimmten Altersstufe in der Lage - Ausreißer gibt es natürlich immer.“
In den vergangenen drei Jahren habe er 900 angehende Lehrer pädagogisch und didaktisch ausgebildet und habe nach dem doppelten Abiturjahrgang von 2013 auch in den Klausuren deutlich Unterschiede beim Abstraktionsverständnis festgestellt. Der Unterschied im Leistungsniveau mache bis zu einer Notenstufe aus, berichtete Ladenthin.
Beim doppelten Abiturjahrgang 2013 hatten die G8-Prüflinge allerdings mit einer Durchschnittsnote von 2,41 geringfügig besser abgeschnitten als die G9-Abiturienten. An der Universität Duisburg-Essen hatte eine Befragung von 3500 Erstsemestern ergeben, dass sie sich nach 12 Schuljahren genauso fit fühlten wie nach 13. Professor Ladenthin meinte hingegen: „Ich muss viel intensiver und kleinschrittiger fördern, damit es noch funktioniert.“ Nur durch massive Unterstützung und mehr Personal habe sich die Durchfaller-Quote nicht erhöht. „Es geht in Richtung Schulunterricht, was ich mache.“
Er stelle auch fest, dass die Diskussionskultur gelitten habe und der gemeinsame Schatz einer allgemeinen kulturellen Bildersprache immer weniger weitergegeben werde. „Wenn ich sage: „Wir kommen jetzt zur Gretchen-Frage“, wissen nur die, die zufällig Goethes „Faust“ gelesen haben, was damit gemeint ist.“ Er führe das darauf zurück, dass immer mehr Inhalte aus dem Gymnasium herausgenommen würden, sagte Ladenthin.
„Der Schulstoff wird nur noch als Abfragestoff gesehen, der eigenes Erleben der Schüler nicht mehr betrifft.“ Schule als Ort der Persönlichkeitserweiterung komme zu kurz. „Man lernt auswendig - wie Regeln für ein Kartenspiel, das man nur selten spielt. Das habe ich in dieser Schärfe und Ausprägung so noch nicht erlebt. Das verstört mich geradezu.“
Klar sei auch: „Schulzeitverkürzung geht immer auf Kosten der leistungsschwachen Schüler, weil die weniger Zeit zum Lernen haben. Für die Leistungsstarken ist das kein Problem.“ Ladenthin plädiert dafür, den Gymnasien die Wahl zwischen einem acht- und einem neunjährigen Bildungsgang zu lassen. In Bayern war ein entsprechendes Volksbegehren im vergangenen Monat gescheitert.